„Ich war ein Schul­versager“

In internationalen Vorbereitungsklassen hat Jan Kammann Schüler*innen aus mehr als 20 Nationen unterrichtet. Über seine Reisen in 14 Länder und seine Schüler*innen hat der Hamburger Lehrer für Englisch und Erdkunde ein Buch geschrieben

Jan Kammann ist der Autor des Buches „Ein deutsches Klassenzimmer – 30 Schüler, 22 Nationen, 14 Länder und ein Lehrer auf Weltreise“ Foto: Miguel Ferraz

Von Yasemin Fusco

taz: Herr Kammann, Sie sind ein Lehrer auf Reisen. Waren Sie das schon immer?

Ich muss zugeben, dass ich Lehrer aus egoistischen Gründen geworden bin – auch, nicht nur. Durch den Beruf kann ich meine Liebe zu Reisen aber sehr gut verbinden. Als Student war ich in Südafrika und habe dort unterrichtet. Zwischen dem ersten und zweiten Staatsexamen war ich ein Jahr Lehrer in China. In beiden Ländern wird mehr improvisiert als hier – und sie kommen trotzdem zum gleichen Ziel. Ohne es besonders besser oder schlechter zu machen.

Haben Sie sich deswegen das Europagymnasium in Hamburg als Schule ausgesucht, um freier unterrichten zu können?

Absolut. Meine Schüler*innen bringen Dinge in den Unterricht ein, von denen ich überhaupt keine Ahnung habe. Das fängt ja schon bei der Berichterstattung in ihren Heimatländern an – wie zum Beispiel die Medien in Russland über den Faschismus in Deutschland berichten.

Wie meinen Sie das?

Wenn in Russland über Deutschland berichtet wird, geht es sehr schnell um den Zweiten Weltkrieg und den Sieg der Russen über die Nationalsozialisten. Solche Einblicke hat man ja nur, wenn man möglichst viele Menschen aus der ganzen Welt in einen Raum bringt. Das ist das Schöne an meinem Beruf. Ich mache eigentlich nichts anderes, als junge Leute aus der ganzen Welt in einen Raum zu bringen und mit ihnen gemeinsam auf ein Ziel hinzuarbeiten.

Also haben Sie sich entschieden, die Heimatländer Ihrer Schüler*innen zu bereisen, um sie besser zu verstehen?

Ja. Der viel zitierte Satz, dass man als Lehrer viel von seinen Schüler*innen lernen kann, passt zu meiner Situation in den Vorbereitungsklassen sehr gut. Nachdem ich mit meinen Schüler*innen drei Jahre zusammengearbeitet habe, habe ich mich 2016 dazu entschlossen, ein Sabbatjahr zu machen und durch ihre Herkunftsländer zu reisen. Vom Entschluss bis zur Bewilligung des Sabbatjahres hat es nur wenige Tage gedauert – das war natürlich der Sache dienlich.

Sie unterrichten 30 Schüler aus 22 Nationen und sind in 14 Länder gereist. Sie waren unter anderem auf Kuba, im Iran und in Bulgarien. Warum bürden Sie sich das auf?

Ich sehe das nicht als Bürde. Ich wollte einfach in den Alltag der Einheimischen in den Ländern eintauchen, als Tourist und nicht als Lehrer. Eine Schülerin aus Bulgarien hat sich mal nach den Ferien bei mir entschuldigt, weil sie drei Tage später in den Unterricht kam. Sie erzählte dann von der sehr langen Busreise von Sofia nach Hamburg und berichtete von Pannen und endlosen Umwegen durch die deutsche Provinz. Sie war fast zwei Tage unterwegs. Da wurde mir klar, in welcher Lebenswirklichkeit ich eigentlich lebe.

Also sind Sie mit dem Bus nach Bulgarien gefahren?

Ja. Ich musste einfach nachempfinden, wie diese Busreise für sie gewesen sein muss. Meine Schülerin war natürlich nicht begeistert und riet mir davon ab. Der Weg nach Bulgarien über Land ist ihrer Meinung nach zu mühselig und unkomfortabel, das musste ich dann am eigenen Leib spüren und meiner Schülerin recht geben.

Wo waren Sie noch?

Ein anderer Schüler, Fernando*, der aus Nicaragua kommt, erzählte im Unterricht immer mit leuchtenden Augen von seiner Heimat. Mir war klar, dass er unglaubliches Heimweh hatte und auch nicht für immer in Deutschland bleiben möchte. Er bekam aber die Diagnose Leukämie und war ein Jahr lang ans Bett gefesselt. Ich bin seinetwegen nach Nicaragua gereist, um auch für ihn dort mal Urlaub gemacht zu haben.

Haben Sie ihm ein Foto mitgebracht?

Ja. Ich habe ihm aber auch eine Karte geschickt und wir sind noch heute in Kontakt. Wir planen, uns bald zu treffen, um über die Reise und Erlebnisse zu sprechen. Er ist ja noch sehr gezeichnet von seiner Krankheit. Vor der Reise und der Diagnose war geplant, dass wir gemeinsam nach Nicaragua fahren und er mein Reiseführer ist.

Sie haben also Ihre Schüler*innen mit in Ihre Sabbatjahr-Pläne eingebunden?

Natürlich. Für mich sind sie die besten Reiseführer, die man sich vorstellen kann. Vor meinem Sabbatjahr habe ich meine Schüler*innen gebeten, mir kleine Reiseführer zu basteln und Alltagsfloskeln in ihrer Muttersprache reinzuschreiben. Daraus ist eine bunte Sammlung entstanden mit Tipps, wie man mit den Einheimischen am besten ins Gespräch kommt, was unbedingt gegessen werden muss und auf welche Gesten und Gesprächsthemen man lieber verzichten sollte. Für mich war das die perfekte Starthilfe.

Wie sehen die Migrationswege Ihrer Schüler*innen aus?

Es gibt eine große Bandbreite der Migration in unserer Schule. Zum einen sind es Kinder aus besser verdienenden Elternhäusern. Auch Ballet-Tänzer*innen gehen dort auf die Schule, die aus der ganzen Welt kommen. Zum anderen sind es aber auch Afghanen und Syrer, die geflüchtet sind. Diese jungen Menschen sitzen dann in einem Klassenraum und müssen gemeinsam von Null beginnen. Bei den geflüchteten Schüler*innen ist es besonders schwierig, weil sie ja auch traumatisiert sind. Eine afghanische Schülerin zum Beispiel hat eine sehr bewegende Geschichte.

Welche?

Mit zwölf Jahren ist sie mit ihrer Schwester und den Eltern geflohen, weil ein Polizist in ihrer Heimatstadt Herat in Ost-Afghanistan sie immer wieder bedrängte und sexuell begehrte. Der Vater hat daraufhin beschlossen, seine Tochter aus dieser Lage zu befreien. Mir erzählte meine Schülerin, dass Polizisten, die in Afghanistan ja meist männlich sind, sich einfach solche Dinge herausnehmen. Ihr Vater wollte sie vor Übergriffen schützen, aber auch sich selbst, weil er ja nicht wollte, dass der Polizist seine Tochter bedrängt.

Das ist ein krasser Schritt.

Ja. Ich habe den Vater später in einer Flüchtlingsunterkunft in Hamburg-Bergedorf als einen sehr stolzen und würdevollen Mann kennengelernt. Für ihn war es kein großes Ding, für seine beiden Töchter nach Deutschland zu fliehen. Aber natürlich wusste er, dass er in Deutschland so schnell nicht Fuß fassen wird.

Wie lebte Ihre Schülerin in der Unterkunft?

In einem sehr kleinen Raum, den sie sich zu viert teilen mussten. Sie hatte keine Möglichkeit, sich zurückzuziehen oder ihre Hausaufgaben zu machen und musste sich außerhalb einen Raum dafür suchen. In der Unterkunft habe ich sie öfter besucht. Für mich war es schlimm zu sehen, wie eine vierköpfige Familie ihren gesamten Besitz in einem kleinen Schrank aufbewahren musste. Mittlerweile haben sie eine passende Wohnung gefunden.

Sind Sie auch in Afghanistan gewesen?

Nein. Das wäre zu gefährlich für mich gewesen. Ich hatte es aber geplant. Ich nahm sogar einige Stunden Sprachunterricht in Farsi, um mich in Afghanistan verständigen zu können, sprach mit einer Lehrerin, die in Kabul an einer deutschen Schule unterrichtet und mit mehreren Organisationen. Es war auch geplant, Afghanistan als erstes Land zu besuchen. Doch der Vater eines anderen afghanischen Schülers hatte mich so eindringlich davor gewarnt, dass ich diesen Plan aufgeben musste.

Wohin sind Sie denn zuerst gereist?

In den Iran. Dort war ich sehr froh, dass nicht wenige von den Iranern englisch sprechen können. Teheran ist von zwei Gegensätzen bestimmt: Natürlich von der islamischen Seite – die Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum fällt sofort auf. Andererseits aber von der atemberaubende Hilfsbereitschaft, damit man sich in dieser Millionenmetropole zurechtfindet. Das Bild der Frau ist allerdings auch nicht unbedingt so, wie man sich es in Deutschland vorstellt.

Wie ist denn das Bild?

Mir fielen sofort die unterschiedlichen Variationen von Kopfbedeckungen auf. Man erkannte konservative Familien und freiheitsliebende Individualistinnen. Die Frauen mussten sich ja mit dem Kopftuch gezwungenermaßen arrangieren und haben ihn der modernen Mode angepasst. Junge Frauen laufen mit Nasenringen, „Hardrock“-T-Shirts und abgetragenen Chucks herum.

Jan Kammann, 39, ist Lehrer für Erdkunde und Englisch an der Europaschule Gymnasium Hamm. Demnächst wird er Vater und muss sich bei seinen Reisen darauf einstellen.

Sie waren auch im Teheraner Randbezirk an einer Schule für afghanische Geflüchtete. Was haben Sie da gesehen?

Da ich nicht nach Afghanistan fahren konnte, wollte ich mir wenigstens eine Schule für afghanische Geflüchtete angucken. Die Kinder dort haben kein Recht auf Bildung im iranischen Exil. Deswegen haben Kolleg*innen eine Schule für diese Kinder gegründet: „Seekers of Knowledge“ heißt sie. Dort lernten die Kinder gerade Persisch, als ich dort ankam und ich habe natürlich mit den jungen Leuten mitgelitten, weil ich weiß, wie schwer es ist, eine völlig fremde Sprache zu lernen.

Wie war Ihre eigene Schulzeit?

Ich war ein sogenannter Schulversager. In der achten Klasse bin ich vom Gymnasium in die Realschule abgestuft worden. Ich hatte einfach andere Dinge im Kopf, als mich um meine Noten zu sorgen. Danach – eine Ausbildung zum Schifffahrtskaufmann und einige Minijobs später – war ich in Oldenburg auf einem Kolleg, um mein Abitur nachzuholen und musste dann feststellen: Das ist kein Hexenwerk! Und mit einer Laufbahn, die eben nicht geradlinig ist, kann ich meinen Schüler*innen in Zeiten des Zweifelns helfen: einfach zeigen, dass man sich auf der Hälfte des Weges auch umentscheiden darf und deswegen die Welt nicht untergeht.

Ich höre immer wieder, wie wenig Sie selbst damit gerechnet haben, Lehrer zu werden. Die Staatsexamen haben Sie ja nicht aus Versehen gemacht, oder?

Meine Familie hat mir dazu geraten, die Staatsexamen zu machen. Das habe ich auch eineinhalb Jahre gemacht, auch wenn das für mich nicht immer leicht war. Aber schlussendlich muss ich sagen, dass ich ohne diese Examen nicht an diese Schule gekommen wäre. Ich gehe wirklich gerne zur Arbeit und genieße es, mit den Schülern zusammen zu sein.

Also sind Sie beruflich angekommen und bleiben nun für immer Lehrer?

Das kann ich wirklich nicht sagen. Natürlich macht mir die Arbeit Spaß, aber ich bin auch neugierig auf neue Dinge. Um den Schüler*innen etwas für das Leben weitergeben zu können, muss ich mir den Input auch selbst irgendwo herholen. Ich merke glücklicherweise, dass sich das mit meinem Beruf nicht ausschließt.

Was hält Sie dann noch hier in Hamburg?

Ich werde zum ersten Mal Vater und das erdet mich gerade sehr. Die Arbeit mit den Kindern wird sich durch mein eigenes Kind verändern – wie, das kann ich heute natürlich nicht sagen. Aber ich werde dann auch Energie und Zeit für mein Kind aufbringen und meine Schüler*innen müssen mich dann eben teilen. Auch die Reisen, die ich natürlich weitermachen will, werden sich in Zukunft nach dem Kind richten.

Das heißt?

Nochmal in den Iran oder ans Grenzgebiet von Südkorea zu Nordkorea fahren – das geht so schnell nicht. Ich habe früher immer geschaut, wie ich schnell in neue Abenteuer gehe, auch das wird sich ändern. Dafür werden es aber natürlich andere Ziele sein, die ich noch gar nicht auf dem Zettel habe.