Leben im identitären Prekariat

Die Wiener Philosophin Isolde Charim stellt in der Volksbühne ihr neues Buch „Ich und die Anderen“ vor. Wir erleben gerade die Abwehrreaktionen auf die radikale Pluralisierung der Gesellschaft, stellt sie fest

Als Individuen, nicht unter einer Fahne vereint: Pärchen auf dem Weg zur #unteilbar-Demo Foto: S. Wells

Von Philipp Rhensius

Das Leben in uns trägt nicht unseren Namen. Jedenfalls nicht nur. Unser Ich ist mit lauter Zugehörigkeiten verbunden: familiären, ethnischen, religiösen, nationalen, kulturellen, politischen. Waren die Fäden zu ihnen vor einiger Zeit noch relativ stabil, werden sie heute immer poröser. Sie sind nicht mehr selbstverständlich. Menschen sind immer weniger Teil einer eindeutigen Gemeinschaft, und das macht was mit ihnen. Oder, schicker gesagt, in den Worten der Wiener Philosophin und taz-Kolumnistin Isolde Charim: Das hat psychopolitische Auswirkungen.

In ihrem jüngsten Buch „Ich und die Anderen“ beschreibt sie unsere Gesellschaft als eine radikal pluralisierte. Die Pluralisierung, die sich in Deutschland und Österreich vor allem am Nebeneinander etlicher verschiedener Lebensstile und Weltbilder zeige, führe dazu, dass wir uns ständig unserer Identität versichern müssen. Weil es einfacher ist, sein Ich aus eindeutigen Identitäten zu basteln, sehnen sich heute wieder mehr Menschen danach.

Über solche Thesen sprach Charim am Freitagabend in der Volksbühne. Dass die Buchvorstellung im Rahmen der beliebten Diskurs-Reihe „Armen Avanessian & Enemies“ stattfand, lag wohl auch daran, dass der Gastgeber, Philosoph Avanessian, selbst mal philosophische Seminare bei Charim besucht hat.

Seminarmäßig begann auch der Abend. Charim las zunächst im radiotauglichen Stil einige Seiten aus ihrem Buch. Dass es kein gemeinsames Narrativ mehr gebe, das von allen geteilt werde, sei vor dem Ende des Kalten Kriegs noch anders gewesen. Die Gesellschaft war relativ homogen. Auch wenn es nur Fiktion war, sei der „nationale Typus“ dominant gewesen.

Charim erzählt den Witz des Kapitäns eines sinkenden Schiffs, der überlegen muss, wie er seine internationalen Passagiere am schnellsten überzeugen kann, vom Schiff zu springen. Dem Franzosen würde er sagen, springen wäre schick, dem Engländer, nicht zu springen sei unsportlich, dem Deutschen, es sei ein Befehl und dem Italiener, springen sei verboten. Das Auflachen der Besucher*innen im voll besetzten Roten Salon hört so schnell auf, wie es begann – womöglich auch, weil im Klischee ein bisschen Wahrheit steckt. Derartige Bilder, die vor 30 Jahren noch die öffentliche Person geprägt hätten, gebe es heute nicht mehr. Stattdessen lebten die meisten, und hier hat Charim ein Buzzword parat, in einem „identitären Prekariat“.

Avanessian wendet kritisch ein, das Publikum hier sei aber durchaus ziemlich homogen. Charim antwortet, sie glaube aber nicht, dass sich Menschen noch so einfach auf eine Zugehörigkeit einigen können. Mit dem Fehlen eindeutiger Identitätsbilder ist die zentrale Arena, in der Gesellschaft verhandelt wird, die Kultur. Und das, so lässt sich hinzufügen, hätten die Rechten in den vergangenen Jahren besser verstanden als die Linken.

Identität wird so zur Kampfzone und bewirkt bei verunsicherten Menschen eine „Abwehr der Pluralisierung“. Charim nennt dafür einige Schauplätze. Während sie im Buch Religion mit ihren vollen Zeichen (Kruzifixe, Kopftücher) oder den linken Diskurs um Political Correctness fasst, kam nun der neurechte Populismus zur Sprache.

Populismus definiert die Wienerin als Strategie, das Phantasma einer homogenen Gesellschaft zu konstruieren, bestenfalls mithilfe eines einfach Freund-Feind-Bildes. Da die Integrationsmechanismen brüchig geworden seien, befänden wir uns in einem populistischen Moment. Eine Anhängerin des linken Populismus nach der Philosophin Chantal Mouffe sei sie jedoch nicht. Dieser müsse nämlich immer auf die Kategorie Volk zurückgreifen, das sich wiederum auf eine Nation beruft.

Macron sei es gelungen, Individuen zu vereinen

Pluralisierung als Chance

Doch wie lässt sich die Pluralisierung politisch gestalten, fragt eine Besucherin bei der Schlussdiskussion. Wichtig sei, Menschen nicht unter einer Fahne vereinen zu wollen, sondern als individuelle Personen. Macron sei das als eine der wenigen gelungen. Seine Bürgerversammlungen hätten einen Echoraum geboten. Partizipation beginne dort, wo sich Menschen als partizipativ erleben können.

Ein bisschen untergegangen ist an diesem Abend, dass die Pluralisierung nicht nur Bedrohung, sondern auch Chance ist. Nicht nur, weil die Befreiung aus fremdbestimmten Kategorien Freiheit bedeutet, sondern auch, weil sie vielen Menschen eine neue Sichtweise abverlangt: War das fragmentierte Ich früher eine Minderheitenerfahrung, bestimmt es heute die Mehrheit.

Das ließe sich auch als Lektion in Demut und sogar in Empathie verstehen. Es ist nun an der Politik, diese pluralisierten Subjekte ernst zu nehmen, statt ihnen vorzulügen, Identitäten aus der Vergangenheit herbeizaubern zu können.