Die Luftwaffe der islamistischen Hamas: Die Brandstifter von Gaza

Ahmad und Sami lassen Feuerdrachen nach Israel fliegen. Bosmat Burstein und Mosche Etzion leben dort, wo die Felder abbrennen.

Folgen der fliegenden Brandbomben: brennende Felder in Israel nahe Gaza Foto: ap

GAZA/BE'ERI/NIRIM taz | Ohne die Bestellung abzuwarten, bringt ein junger Mann Wasser, Plastikbecher und kleine Keramiktassen mit Kaffee. Ahmad und Sami (beide Namen geändert) ­haben lange gezögert, bevor sie dem Treffen zusagten. Die Hamas verbiete es ihnen, mit Journalisten zu reden. Die beiden Palästinenser sind 26 Jahre alt, sie leben mit ihren Familien in einem Flüchtlingslager. Das Treffen in dem kleinen Kaffeehaus hat etwas Konspiratives. Sami ist etwas größer als sein Freund. Er trägt ein kariertes Hemd über seinem schwarzen T-Shirt und Jeans. „Wir sind wütend“, sagt er. „Unsere Eltern und Großeltern haben nichts für uns erreicht.“

Sami und Ahmad gehören zu einer neuen Art von Kämpfern im Gazastreifen. Am Anfang bastelten sie Papierdrachen, steckten die Schwanzenden in Brand und ließen sie über die Grenze nach Israel treiben. „Jede Aktion aus dem Volk fängt klein an und entwickelt sich“, sagt Ahmad. Er trägt ein braunes Polohemd und Trainingshosen. „Die Palästinenser sind kreativ. Wir zerbrechen uns die Köpfe, wie man etwas verändern kann.“ Bisweilen heften sie Botschaften auf Hebräisch an die Drachen: „Haut ab, bevor es zu spät ist“, und: „Das ist unser Land. Wenn wir leiden müssen, dann nicht allein.“ Oder sie notieren die Namen von Minderjährigen, die bei den Demonstrationen den Tod fanden, auf die Zettel. Seit Mitte Mai, als die in der Grenzregion stationierten israelischen Scharfschützen an einem Wochenende 60 Demonstranten erschossen, rüstete der Widerstandsnachwuchs auf und schickt seither Heliumballons Richtung Israel, an denen in Benzin getränkte Stofffetzen hängen.

Gerade ein Jahr alt waren die beiden, als sich 1993 der damalige Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) Jassir Arafat und Israels Regierungschef Jitzhak Rabin die Hand zum Frieden reichten. 25 Jahre später sind die Siedler und Soldaten schon lange aus dem Gazastreifen abgezogen, dafür aber bleiben die Grenzen geschlossen, und die Palästinenser sind unter sich zerstritten. Präsident Mahmud Abbas, der Chef der Fatah, kürzt die Gehälter für die Beamten und die öffentlichen Gelder in Gaza. Strom und Wasser kommen nur sporadisch bei den Menschen an.

Die Wut der jungen Männer richtet sich dennoch nicht gegen ihren Präsidenten, sondern gegen Israel. Die Besatzung sei schuld an der Not, sagt Ahmad, schimpft aber auch darüber, dass „die arabischen Staaten nichts für uns tun“. Die Angriffe mit den Brandsätzen sollen eine Botschaft an Israel sein. „Wir wollen unser Land zurück. Ihr könnt uns zusammenquetschen, aber wir werden nicht alleine leiden“, sagt Ahmad.

Wie die meisten Menschen im Gazastreifen sind die beiden Freunde auf die Unterstützung durch das UN-Flüchtlingshilfswerks UNRWA angewiesen. Bildung und medizinische Versorgung in den Lagern sowie Nahrungsmittelhilfen sind seit der Entscheidung von US-Präsident Donald Trump, die Zahlungen an die UNRWA einzustellen, nur noch bis zum Jahresende gesichert. Wenn sich bis dahin kein dauerhafter Ersatzfinanzier findet, droht der belagerten Küstenregion eine Hungersnot.

Wie Israel den Drachen begegnet

Kaum zehn Kilometer südöstlich von Gaza-Stadt beobachtet eine Gruppe israelischer Soldatinnen die Grenzregion. Die nur aus Frauen bestehende Einheit hat es sich auf dem Dach der Druckerei von Kibbuz Be’eri mit ihren Rucksäcken und Jacken so gemütlich gemacht, wie es geht. Rund um die Uhr sitzen mindestens zwei Frauen an Ferngläsern und richten den Blick auf das Panorama des Gazastreifens, das sich vor ihnen ausbreitet. Sobald sich ein fliegender Brandsatz am Himmel zeigt, schlagen sie Alarm. Das ist der Moment für die Reservisten. In ihrer Freizeit lenken sie Modellflugzeuge, nun haben sie die Aufgabe, mit Rasierklingen bestückten Drohnen auf die Jagd zu schicken, um die Drachen und Heliumballons möglichst noch vom Himmel zu holen, bevor sie Israel erreicht haben. Ihr Erfolg hält sich in Grenzen.

Mosche Etzion aus dem Kibbuz Nirim

„Ich habe in meinem Leben noch nie jemanden getroffen, der mich persönlich gehasst hat“

Die Bauern von Be’eri haben einige ihrer Trecker zu Löschfahrzeugen umgebaut. „Manchmal schicken die Palästinenser Dutzende Brandsätze auf einmal, dagegen können wir wenig ausrichten“, sagt Bosmat Burstein. Sie lebt in dem Kibbuz, den einst ihre Großeltern mit begründeten und in dem heute rund eintausend Menschen wohnen. Burstein ist Anfang 50. Sie hat dunkle Locken, trägt enge Jeans, modische Stiefeletten und eine dunkelrote Strickjacke. Mit Schwung parkt sie ihr Fahrrad vor der Druckerei und geht mit flottem Schritt auf das fünfstöckige Gebäude zu. Formulare für Behörden, Führerscheine, Kreditkarten und Lottoscheine sind Standardprodukte von „Be’eri-Print“.

Burstein erinnert sich noch gut an die Zeit, als es für die Kibbuzniks „ganz normal war, rüberzufahren“, um im Gazastreifen einzukaufen. Umgekehrt kamen palästinensische Arbeitskräfte in die Landwirtschaftskooperative – selbst dann noch, als Israels Regierung mit dem Bau der Sperranlagen begann. „Es war ein offenes Geheimnis, dass die Palästinenser einen Weg durch den Zaun finden“, wenn sie in Israel arbeiten wollten. Hier und dort gab es Messerattentate, trotzdem ließ man die Arbeiter kommen. Dass die Grenze inzwischen als hermetisch gilt, liege daran, dass die Soldaten heute „sofort schießen, wenn sich auf der anderen Seite jemand dem Zaun nähert“.

Lieber Kassam-Raketen als diese Brandsätze

Die schrittweise Isolation des Gazastreifens hat den Kibbuz Be’eri und die anderen israelischen Ortschaften in der Region zum Angriffsziel werden lassen. Bis zum Abzug 2005 waren die israelischen Siedlungen und die Besatzungssoldaten Hauptfeind der Palästinenser im Gazastreifen. „Auf einmal wurden wir zur Front“, erinnert sich Burstein. Hamas und islamischer Dschihad schicken sporadisch Raketen und Mörsergranaten auf die Nachbarn hinter der Grenze. Seit ein paar Monaten sind es Brandsätze.

Be’eri ist gut geschützt gegen die Kassam-Raketen, die Palästinenser in heimischen Werkstätten basteln. Alle paar Meter gibt es einen Bunker. „Du guckst dir die Statistik an und weißt, dass die Gefahr eines Autounfalls größer ist, als von einer Rakete verletzt zu werden“, meint Burstein gelassen. Erst kommt der Raketenalarm, die vom israelischen Luftabwehrsystem ausgelöste Explosion, und schon nach wenigen Minuten geht das Leben weiter.

Die permanenten Brandanschläge empfindet die dreifache Mutter hingegen als zermürbend. Solange die Felder brennen, „kannst du nicht aus dem Haus, du kannst nicht mehr atmen, der Rauch schneidet dir die Luft ab“. Beinahe froh war sie deshalb, als im August für ein paar Tage wieder Raketen aus dem Gazastreifen abgeschossen wurden anstelle der Branddrachen. „Ich konnte endlich mal wieder meine Wäsche aufhängen.“

Die über viele Kilometer verbrannten Felder hinterlassen bei ihr ein Gefühl vom Ende der Welt. „Ich bin nicht wütend, nur traurig“, sagt sie mit Verständnis für die Palästinenser. „Ein Volk kann nicht so unterdrückt werden. So können sie nicht weiterleben, und sie wollen ja gar nicht viel, nur Strom, Wasser, eine Perspektive.“

Eigentlich ist es Abbas, der das Elend in Gaza verschärft

Die Belagerung des Gazastreifens durch Israel und Ägypten ist ein chronisches Problem. Akut wird die Not der Menschen durch die Sanktionen der Palästinensischen Autonomieverwaltung (PA) in Ramallah. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas „nimmt die gesamten palästinensischen Gelder und steckt sie allein nach Westjordanien oder in seine eigene Tasche und die Taschen seiner Söhne“, sagt Mahmud al-Sahar, ehemals palästinensischer Außenminister. Abbas hat die Gehälter der rund 50.000 PA-Mitarbeiter im Gazastreifen gekürzt. Für al-Sahar, der zu den fünf mächtigsten Politikern der Islamisten in Gaza zählt, ist das „ein humanitäres Verbrechen“. Dass sich die Wut der Palästinenser trotzdem wieder nur gegen Israel Luft macht, begründet der Hamas-Funktionär damit, dass „Abbas ein Kollaborateur ist“, der einen Krieg zwischen Israel und Gaza provozieren wolle, um anschließend wieder die Fatah die Kontrolle in Gaza übernehmen zu lassen.

Ahmad aus Gaza

„Wir wollen unser Land zurück. Ihr könnt uns zusammenquetschen, aber wir werden nicht alleine leiden“

Paradoxerweise könnte ihm das gelingen. „Wenn wir dazu gezwungen sind, werden wir mit Gottes Hilfe Israel schmerzhaft schlagen“, kündigt Hamas-Funktionär al-Sahar an. Und auch in Jerusalem geben sich die Politiker wenig versöhnlich. „Israel wird machtvoll agieren“, kündigte Regierungschef Benjamin Netanjahu an, und Verteidigungsminister Avigdor Lieberman fügte hinzu, dass nun, „da wir alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben“, Israel keine Wahl mehr bleibe, als „der Hamas einen schweren Schlag zu erteilen“.

Weder die Hamas noch Israel sind an einer Eskalation interessiert. Die letzten vier Kriege haben für keine Seite Vorteile gebracht. Israels Militär und die Geheimdienste warnen vor dem gezielten Aushungern des Gazastreifens, und Netanjahu appellierte jüngst an Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi, er solle seinen Einfluss auf Abbas für eine Lockerung der Sanktionen geltend machen.

Feuerdrachenbauer Sami zögert mit Kritik an Abbas. „Wir sind Brüder, wir haben ein Land und einen Glauben, und wir kämpfen für dieselbe Sache“, sagt er. Auch die Fatah habe viele Märtyrer zu betrauern. Klar habe Arafat mehr für die Palästinenser erreicht, räumen die beiden Freunde schließlich ein. „Abbas ist nicht so überzeugend.“ Sami ist froh, endlich selbst etwas tun zu können. Seit elf Jahren dauert die Belagerung an, und „wir sitzen hier und warten ab, aber nichts passiert“. Zum ersten Mal trauten sich die jungen Palästinenser jetzt in die Pufferzone der Grenzregion mit einer Kefieh vor dem Gesicht, dem traditionellen Palästinensertuch. Zum ersten Mal können sie einen Blick auf die andere Seite werfen.

Die Angreifer sprechen von „friedlichem Widerstand“

„Wir suchen kein Blut, nur unsere Rechte.“ Die Angriffe mit den Brandsätzen betrachten die beiden Männer als „friedlichen Widerstand“, schließlich entstehe dabei nur Sachschaden, was harmlos sei „im Vergleich zu dem, was die Israelis uns antun“. Ahmad berichtet von einem Jungen, der dicht am Zaun angeschossen wurde. „Wir wollten ihm helfen, aber die Soldaten haben immer weiter geschossen.“ Am Ende sei das Kind verblutet. Sami erbost sich: „Wir schicken Ballons, und sie schießen mit scharfer Munition auf uns.“ Angst hätten die beiden keine, nur ihre Eltern sorgten sich. „Wir werden als Helden gesehen“, im Lager. „Die Besatzung zu bekämpfen ist eine Ehre.“

Manchmal ist über Wochen Ruhe, manchmal steigen pausenlos Ballons in den Himmel. „Wir entscheiden nie vorher über unsere Aktionen“, sagt Sami. Oft seien die Angriffe eine Reaktion auf den israelischen Beschuss und neue Opfer. „Manchmal halten wir eine Weile Ruhe, um die Israelis glauben zu lassen, dass nichts mehr kommt.“ Außerdem sei da das Problem von mangelndem Material. Helium werde für Reparaturen von Kühlschränken verwendet, inzwischen gingen die Vorräte jedoch dem Ende entgegen. Im Internet holen sie sich Anleitungen zur Herstellung möglicher Ersatzgase. „Mit Natrium und Wasser“ experimentierten Sami und Ahmad in diesen Tagen, sagen sie. Das „Hohe Komitee des Großen Marschs“, das fraktionsübergreifend die Demonstrationen in der Grenzregion koordiniert, „zahlt uns manchmal ein kleines Taschengeld“.

Mit den Brandangriffen aufhören wollen die beiden „erst, wenn unsere Forderungen erfüllt sind“. Ein Ende der Blockade steht ganz oben auf der Liste, freier Personen- und Warenverkehr und die Rückkehr zum Land der Vorfahren. Vor gut 70 Jahren flohen Samis Großeltern aus Beerschewa. Eine friedliche Lösung per Zweistaatenlösung sehen die beiden nicht. „Dies ist unser Land“, beharrt Ahmad. „Die Juden sollen dahin zurückgehen, wo sie hergekommen sind.“

Der Holocaust-Überlebende kann Brandstifter verstehen

Mosche Etzion kam aus Polen nach Palästina. 1943 war das. Er erreichte zusammen mit seinem Bruder das Land und ging in die Hafenstadt Haifa. Da war er gerade elf Jahre alt, seit Jahren von der Mutter getrennt, seinen Vater hat er auf der Flucht vor den Nazis vor Hunger sterben sehen. Es war die erste Gruppe minderjähriger Immigranten, die Palästina während des Zweiten Weltkrieges erreichten. „Man wusste hier damals noch nicht vom Holocaust. Wir konnten berichten, was man den Juden in Europa antat.“

Etzion lebt mit seiner Frau Batia im Kibbuz Nirim, der wie Be’eri direkt an der Grenze zum Gazastreifen liegt. „Die Stadt hat mich erstickt. Ich wollte aufs Land ziehen“, sagt der Mittachziger, dessen Gesicht von tiefen Falten zerfurcht ist. Nur ein paar Häuser entfernt wohnen Etzions Schwiegertochter und fünf seiner Enkel. Ze’ev, der älteste Sohn des Ehepaares, starb während des Gaza­kriegs vor vier Jahren bei einem palästinensischen Angriff mit einer Mörsergranate. Kaum eine Stunde später trat der Waffenstillstand in Kraft.

Der alte Mann spricht ohne Zorn über die Palästinenser. „Natürlich haben sie tief im Herzen die Hoffnung, das Land zurückzubekommen, das früher ihren Familien gehörte, aber wenn ein normales Leben in Gaza möglich wäre, dann würde das keine Rolle mehr spielen.“ Die Branddrachen und -ballons findet Etzion „genial. Sie kosten so gut wie nichts und richten trotzdem riesigen Schaden an“. Der Wind wehe fast immer landeinwärts. „Wer sich das ausgedacht hat, ist ein Genie.“ Schließlich habe schon Albert Einstein prophezeit, dass „der vierte Weltkrieg mit Stöcken und Steinen“ ausgefochten werde, gibt er zu bedenken.

Nach dem letzten Gazakrieg begann Etzion, palästinensische Patienten zum Krankenhaus zu fahren, die zur Behandlung nach Israel oder ins Westjordanland einreisen dürfen. Ein acht Jahre altes Mädchen, das in Israel eine neue Niere bekam, und ihr Vater gehören zu seinen „Stammkunden“. Er holt die beiden am Kontrollübergang Eres ab. Von dem Vater hört Etzion, dass jeder Palästinenser, „der zu den Demonstrationen an die Grenze geht, um Probleme zu machen, pro Tag 70 Dollar bekommt“. Für viele sei das die einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen. Völlig klar findet es der alte Mann deshalb, dass so viele ­Palästinenser Woche für Woche an die Grenze ziehen.

Sowohl in Jerusalem als auch bei den Palästinensern bräuchte es einen Nelson Mandela, findet Etzion. Die Führungen nährten den Konflikt, „denn sobald es hier ruhig und friedlich ist, wird das Volk eine normale Regierung wählen“. Überhaupt seien die Führungen das eigentliche Problem für den Zorn der Palästinenser auf die Israelis. „Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie jemanden getroffen, der mich persönlich gehasst hat.“

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