Das Kleid als Kunstobjekt

Die Kleider der Berliner Modedesignerin Isabel Vollrath sind Einzelstücke, nichtreproduzierbare, wundersame Ausnahmeerscheinungen in unserer Welt

Isabel Vollrath vor der langen Reihe knallroter Kleider. Es ist auch das typische runde Element zu sehen, mit dem bei ihr Ärmel abschließen Foto: Amélie Losier

Von Marina Razumovskaya

Wer Isabel Vollraths Atelier in der Linienstraße betritt, weiß zunächst nicht, wohin er sich verirrt hat. Erstaunlichste Dinge sind zu sehen, die ebenso gut Kunstobjekte wie Teile modischer Outfits sein könnten: eine Tasche aus Dutzenden von Ballettschuhen, ein Mantel aus 70 zusammengenähten Ärmeln, eine schwarze Kopfbedeckung, gespickt mit unzähligen, glänzenden Teilen wie kleinen Strahlen oder leuchtenden Stacheln eines fantastischen Igels, ein Hut, auf dem vorne ein verrutschter Helmbusch sitzt: die aufgerichtete Spitze eines Ballettschuhs. (Die venezianischen Dogen trugen topfartige Kopfbedeckungen, die hinten in eine ähnliche Art Auswuchs ausliefen.) Die ganze Szenerie ist wie ein Bild arrangiert: auf der rechten Seite sind die meisten Sachen in dunklem Schwarz oder Blau gehalten, links hängen auf Stangen lange Reihen weißer und knallroter Sachen, alle in einem ähnlichen Ton.

Zwei Leidenschaften prägen das Werk dieser Designerin: das Ballett und Italien. Isabel ist selbst eine leidenschaftliche Tänzerin. Wie eine Primaballerina ist ihre Haltung in Körper und Stil geradlinig, aufrecht, eine schmale Frau, die etwas sehr Diszipliniertes hat. Man wundert sich, wie eine so feine, zerbrechliche Frau eine solche innere Stärke aufbringen kann, all das zu schaffen, diese Hunderte von teils schweren und großen Roben, durchgestaltet bis in die kleinsten, preziosen Details. Beobachtet man sie bei der Arbeit, scheint sie sich wirklich wie eine Balletteuse zwischen Schneiderpuppe, Nähmaschine und Stoffregal zu bewegen.

Isabel kommt aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald. In dieser ländlichen Umgebung kennt jeder „die verrückte Isa, die da in Berlin irgendwas anstellt“. Studiert hat diese Isa in Weißensee, das damals, so sagt sie, von starken Persönlichkeiten geprägt gewesen sei. Wenn sie jetzt dort ist, wundert sie sich ein wenig, wie ähnlich sich alle geworden sind. Man denkt vor allem ans spätere Geldverdienen. Aber die künstlerische Seite der Mode? Sie selbst wollte schon immer Kunst und Mode irgendwie zusammenführen. Für ihre erste Kollektion investierte sie ihr letztes Geld in die außergewöhnlichen Schuhe, die dazugehören mussten – und dann, peng!, gewinnt sie mit Kollektion und Schuhen den berühmten International Talent Support, ITS, in Triest (taz v.10. 8. 2016). Das Preisgeld war so hoch, dass alles wieder reinkam. Isabel liebt solche Risikotouren. Jeder Gewinner von Triest muss im Archiv irgendein Kleidungsstück hinterlassen, bei Isabel war es ein Outfit für Mann und Frau in Form einer Tarotkarte.

Isabel bringt viele Erfahrungen von anderen Orten nach Berlin. Nach Abschluss ihres Studiums war sie, begeistert von Gogols Peterburgskie Povesti, jenen Geschichten von Menschen, die sich durch irgendeine Kleinigkeit von der Mehrheit ihrer Mitmenschen entfernen, nach St. Petersburg gefahren und hatte zwei Monate dort verbracht. Später lebt sie eine Zeit lang in jener der Wasserstadt „Piter“ verwandten Stadt der Kanäle: Venedig. Für einen Kostümbildner italienischer Opern hatte sie vor Aufnahme ihres Studiums in Venedig Kimonos genäht. Diese Wasserstädte spürt man in vielen ihrer Kollektionen.

Bisher waren ihre Kunden hauptsächlich Kunstsammler und Galeristen, auch Musiker und Tänzer, die auf sie aufmerksam wurden und dann begeistert ein (teures) Einzelstück erwarben. Anschließend kamen sie immer wieder zurück, um zu schauen, was Isabel Neues gemacht hat. Eines Tages kam auch die Mercedes-Benz Fashion Week zu ihr – es gab das Gerücht, dass da irgendwo in Berlin eine Designerin ganz auf eigene Faust die unglaublichsten Kreationen zwischen Haute Couture und Kunst schafft …– und lud sie in den Schauenkalender ein.

Seither zeigt sie zweimal im Jahr ihre Kollektionen im Rahmen der Berliner Fashion Week, dem Berliner Salon/Vogue Salon, kooperiert mit Swarovski und ist Mitglied des Fashion Council Germany.

Wie eine Balletteuse bewegt sie sich zwischen Schneiderpuppe, Nähmaschine, Stoffregal

Ich spreche mit Isabel auch über die Show der vergangenen Fashion Week (taz 9. 7. 2018). Vor meinen Augen schweben noch die Frauen, umhüllt von Seidenstoffen mit japanischen Frisuren. Sie führt mir einige Teile von Nahem vor, und da bemerkt man erst die vielen, kleinen Akzente, die sich in jedem Stück verbergen, bis zu jenen mit goldenem Faden abgesteppten Nähten. Man sieht, wie fein und präzise alles gearbeitet ist. Im Arbeitsraum hängen auch die Prototypen für eine neue Kollektion, an der sie gerade arbeitet. Man darf gespannt sein, wie sie heißt. Denn sämtliche ihrer bisherigen Kollektionen hatten sehr sprechende Titel: The poetry of light, Les misérables, Le sacre du printemps oder Water for elephants. Auch in der neuen Kollektion sind Isabels Markenzeichen weithin sichtbar, etwa jenes schnabelartig gebogene, rundliche Element, das sich schützend über Schultern legt und sie verlängert oder als eine Art Manschette Ärmel abschließt und Hosenbeine. Irgendwo zwischen venezianischen Masken und Roben von Dogen ist es entstanden. „Das ist mein Element, eine Art Erfindung, ja, ich habe es erfunden, gefunden, es hat mich gefunden.“

Ein anderes Lieblingselement Isabels sind Schlaufen und Schleifen. In allen Variatio­nen und Größen tauchen sie auf, ordnen sich gern in Reihen an, wiederholen sich oben und unten am Kleid. Viele ihrer Sachen haben auch etwas Skulpturales. Es sind geschlossene Volumen, die den zerbrechlichen Körper bergen und ihn manchmal wie in einer Muschel schützen. Eine Bluse aus feinster Seide, zusammengefaltet aus einem einzigen Stück, die Ärmel ausgeschnitten, und dann in Falten um den Körper herum gelegt, wie das nur mit den edelsten Stoffen geht – am Ende steht ein Volumen mit erstaunlicher, geschlossener Silhouette, in die sich nahtlos auch die Frisur mit muschelförmigem Knoten einfügt. Für einige ihrer Kollektionen hat sie mit dem alten Verfahren des Siebdrucks gearbeitet, analog, nicht digital. In Poetry of light etwa ist dann auf hellem, rostbraunen Grund zu sehen, wie sich Häuser, Fassaden und Wasser gegenseitig spiegeln.

Die Kleider, die Isabel bisher geschaffen hat, sind bis auf wenige Ausnahmen Unikate. Nicht reproduzierbare Einzelstücke, wundersame Ausnahmeerscheinungen in unserer Welt. Jetzt denkt die Designerin zum ersten Mal über eine kommerziellere Linie nach, tragbar für alle und in Serie herzustellen. Sie träumt von einem eigenen Duft, einem eigenen Parfüm. Ganz bestimmt werden ihre Markenzeichen auch in dieser Linie erkennbar sein – Schnabel, Ballett und alte Architektur, die Schleifen und das Wasser … Hoffentlich schlüpfen wir bald alle in diese wunderbare Welt hinein!