Märchen im Albtraum

Jahrelang wurden Turnerinnen des US-Teams missbraucht. Der Verband liegt in Trümmern. Doch es gibt Hoffnung. Sie trägt den Namen Simone Biles

Sicher in der Schwebe: Simone Biles auf dem WM-Balken von Doha Foto: ap

Aus Doha Sandra Schmidt

Es gibt Momente, schier ausweglose Momente, in denen die Rettung vor dem drohenden Kollaps, mit einem einzigen Namen verbunden ist. So ist es momentan in der kleinen Welt des Turnsports und darin für den großen Verband USA Gymnastics (USAG). Und der Name, der Rettung verheißt, ist Simone Biles.

Die ist am Dienstag im katarischen Doha Weltmeisterin mit dem Team geworden. Biles wird, daran besteht kein Zweifel, sofern sie antritt, am Donnerstag Weltmeisterin im Mehrkampf – zum fünften Mal. Sie wird den Titel am Sprung gewinnen, mit einem neuen Sprung namens Biles, der wahrlich großartig ist: nach einer Radwende auf das Brett und einer halben Schraube auf den Sprungtisch dreht sie danach zwei gestreckte Schrauben. Vermutlich gewinnt sie auch den Titel am Boden, wo sie Welten schwieriger turnt als die Konkurrenz, und vielleicht auch den am Balken.

Simone Biles liefert Stoff für Geschichten, die ihre jungen Teamkolleginnen in Doha nicht liefern könnten, weil sie nicht annähernd so gut sind. Vor allem aber ist es eine Comebackgeschichte: Die geradezu märchenhafte Dominanz einer Schwarzen Turnerin aus schwierigen Verhältnissen geht offenbar einfach weiter. 2016 in Rio war Simone Biles mit vier Goldmedaillen zum Star der Olympischen Spiele avanciert. Doch kurz nach Rio begann der Zusammenbruch des Systems. Die Geschichte des sexuellen Missbrauchs von Sportlerinnen durch den US-Teamarzt Larry Nassar wurde öffentlich. Bei der Verhandlung zu Beginn dieses Jahres gaben 156 Frauen, darunter auch Turn-Olympiasiegerinnen, ihr Statement ab. Auf dieser Grundlage fiel das Urteil, demzufolge Nassar das Gefängnis nie wieder verlassen wird.

Vor allem Aly Raisman, die als Kapitänin das US-Team 2012 und 2016 – damals mit Biles – , zu Olympiagold geführt hatte, beschrieb ein perverses System, in dem vor allem die Verantwortlichen im Verband immer wegschauten, weil es doch, ach so erfolgreich war. Raisman berichtete zuletzt im Podcast Gymcastic, wie hochrangige Funktionäre des Verbandes sie mittlerweile einfach ignorieren und sich über sie lustig machen, Funktionäre wie Ron Galimore, der in Doha anwesend ist.

Simone Biles nahm 2017 nach einjähriger Pause das Training wieder auf. Im Januar teilte sie per Twitter mit, dass auch sie von Nassar missbraucht worden war. Sie könne sich nicht vorstellen, je wieder die Ranch, das US-Trainingszentrum, an dem Nassar agiert hatte, zu betreten. Der Verband reagierte prompt und ließ wissen, auf der Ranch würden wieder Trainingslager stattfinden. In der Verhandlung trat Simone Biles nicht auf, auch nicht per Videoschalte oder durch ein vorgelesenes Statement. Nach dem Urteilsspruch gab sie ein Interview im Fernsehen.

„Simone Biles ist der Michael Jordan des Turnens“

Tom Forster, Chef des US-Teams

„Sie ist der Michael Jordan des Turnens“, brachte es Tom Forster, der neue Chef der US-Turnerinnen in Doha auf den Punkt. Simone Biles ist die beste Turnerin der Welt und sie ist eine der Survivors wie die Opfer Nassars genannt werden. Das Gute für den Verband ist, darüber redet sie nicht. Es gilt nach vorne zu schauen, zu zeigen, was trotzdem geht, den Jüngeren ein Vorbild zu sein. Es geht darum, zu turnen. Den Abend vor der Qualifikation hatte Biles wegen eines Nierensteins in der Notaufnahme eines Krankenhauses verbracht. „Der Nierenstein kann warten“, twitterte sie aus dem Krankenhaus, verließ es auf eigene Gefahr und turnte am nächsten Tag, als sei nichts gewesen – was für eine Geschichte!

Man muss überhaupt nicht daran zweifeln, dass dies tatsächlich die Haltung dieser mittlerweile 21-jährigen Biles ist, diesem 1,42 Meter kurzen Bündel an Kraft und Entschlossenheit. „Ich habe hart trainiert für dieses Comeback“, sagte sie nach dem Teamgold: „Unglaublich, dass ich hier jetzt wieder stehe.“

Der Verband hingegen hat momentan keine Führung und keine Sponsoren, Ex-Präsident Steve Penny drohen viele Jahre Gefängnis, einige der besten Trainer wechselten ins Ausland und angesichts der millionenschweren Zivilklagen droht eventuell gar der Konkurs. Erst an diesem Montag hat auch Ex-Weltmeisterin Tasha Schwikert USAG verklagt. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung geht es jetzt erst mal um Simone Biles – sie ist die Rettung, zumindest vorläufig.