Bayern in Bewegung

Keine andere Partei prägte die 175 Tage der Münchner Räterevolution 1819/19 wie die USP. Lag es daran, dass sich die Unabhängigen gar nicht so sehr als Partei sahen?

Demonstra­tionszug des Arbeiterrats auf der Münchner Ludwigstraße mit Kurt Eisner auf dem Rücksitz, Februar 1919. Wenige Tage später wurde Eisner umgebracht Foto: SZ/Ullstein

Von Ralf Höller

Die Revolution in München erfolgte zwei Tage vor der Ausrufung der Republik in Berlin. Die bayerischen Linken waren nicht nur schneller als ihre Genossen, sie waren auch radikaler. Der Umsturz selber war eine Angelegenheit von wenigen Stunden und verlief komplett friedlich. Danach kam es vor allem darauf an, die Errungenschaften zu wahren und weiterzuführen.

Der neue Ministerpräsident Kurt Eisner rief kurzerhand den Freistaat Bayern aus, als Verkündungsorgan wählte er die Münchner Neuesten Nachrichten. In der folgenden Woche versprach er „eine Revolution, vielleicht die erste Revolution der Weltgeschichte, die Idee, das Ideal und die Wirklichkeit vereint.“ Zugleich machte er deutlich, was er nicht wollte: „daß alle paar Jahre alle Bürger das Wahlrecht ausüben und die Welt regieren mit neuen Ministern und neuem Parlament. Wir, die wir eine neue Form der Revolution gefunden haben, wir versuchen auch eine neue Form der Demokratie zu entwickeln.“

Eisner hielt Wort. Für Mitte Januar 1919 setzte er eine Landtagswahl an, die erste freie, demokratische überhaupt in Bayern. Gleichzeitig trug er Sorge, dem daraus hervorgehenden Parlament ein starkes Kontrollorgan zur Seite zu stellen. Tatsächlich spielten die Räte in Bayern während der sechs Monate der Revolution bis zu ihrer Niederschlagung stets eine bedeutende Rolle. Manchmal waren die Räte stärker als die Parteien und sogar das Parlament.

Seine eigene Partei, die USP, also den bayerischen Teil der pazifistischen USPD, die sich im Krieg von der SPD abgespaltet hatte, sah Eisner eher als Bewegung. So hatte sie 1916 begonnen, zwei Jahre vor Kriegsende, in der Münchner Gaststätte Gambrinus, als der Friedensredner Eisner nur wenige Dutzend Getreue um sich scharte, und sollte es bald wieder werden, nachdem bei der Landtagswahl ganze 2,5 Prozent der Wähler für die USP gestimmt hatten. Ihre Erfolge feierte sie auf anderer Ebene. Mit den Räten war ein System geschaffen worden, das allen Interessierten offenstand und über Parteigrenzen hinweg funktionierte. Während etwa die SPD, in Bayern wie im Reich, sich eindeutig für den Parlamentarismus aussprach und die Räte am liebsten wieder abgeschafft oder auf eine lokale Ebene begrenzt hätte, engagierten sich viele ihrer Mitglieder in den verschiedenen Gremien.

Auswahl hatten sie reichlich: Allein in Bayern entstanden in den zwei Monaten zwischen Umsturz und Landtagswahl mehr als sechstausend lokale und regionale Räte. Die meisten waren Arbeiterorganisationen. Bei so viel Zulauf musste die SPD fürchten, ihre ureigene Klientel zu verlieren. Paradoxerweise sollte die USP in Bayern und die USPD im Reich bei kommenden Landtags- und Reichstagswahlen von ihrer neugewonnenen Popularität in der Arbeiterschaft profitieren, als die Revolution längst Geschichte war.

Der Schlüssel zum Erfolg der USP lag in der Organisation. Was ihr bei den ersten Wahlen zum Nachteil gereichte, nämlich der fehlende Parteiapparat – Parallelen zur heutigen Zeit tun sich auf: Die neu gegründete Ost-SPD verlor die ersten freien Wahlen zur Volkskammer auch deswegen, weil sie nicht, wie etwa die CDU, auf die Struktur früherer Blockflötenparteien zurückgreifen konnte –, erwies sich im von unten nach oben ausgerichteten Rätesystem als Vorteil: Die USPler verströmten Glaubwürdigkeit, mussten nie nach Berliner oder Münchner Parteizentralen schielen und, anders als die Mehrheits-SPDler, sich nicht einmal schämen, Teil der Sozialdemokratie zu sein.

Sobald der Termin für die Landtagswahl bekannt wurde, reagierten die Räte. Sämtliche Arbeiterräte Bayerns vereinten sich unter einem Dach, dem Vollzugsrat. Gleiches Prinzip, anderer Name: Auch die Bauern- und Soldatenräte schlossen sich zusammen, nur nannten sie sich Vollzugsausschuss. USP-Mitglied Ernst Toller, erst nach dem erfolgreich verlaufenen Umsturz nach München gekommen, trat sofort in den lokalen Arbeiterrat ein und wurde bald zum Zweiten Vorsitzenden des Vollzugsrats gewählt. Erich Mühsam, lange in der Mobilisierung des städtischen Subproletariats aktiv, stand von Beginn an dem radikalen Revolutionären Arbeiterrat vor, der eine Münchner Einrichtung blieb und parallel zum Vollzugsrat existierte. Da sich naturgemäß das Gros der Politik in der Landeshauptstadt abspielte, war es für die Rätebewegung wichtig, eine starke, unabhängige Organisation in München zu wissen.

Manchmal auch zum Leidwesen von Eisner: Zunächst wollte der Ministerpräsident die Funktion der Räte aufs Erzieherische beschränken, ohne ihnen gesetzgeberische Kompetenz einzuräumen, was wiederum Mühsam vehement forderte. Eine Position dazwischen nahm Gustav Landauer ein, von Eisner als politischer Ratgeber nach München eingeladen und umgehend von seinem Freund Mühsam in den Revolutionären Arbeiterrat gehievt.

Landauer, dessen 1911 erschienener „Aufruf zum Sozialismus“ immer noch fleißig gelesen wurde (sogar der konservativ-bürgerliche Thomas Mann lobte das Werk!), war „nicht für das Vertretersystem in dem Sinne, daß das Volk abdankt, nachdem es seine Vertreter gewählt hatte“, sondern „dafür, daß, wenn die entsandten Delegierten etwas tun, was gegen das Interesse und gegen den Wunsch derer ist, die sie entsandt haben, sie sofort zurückgezogen und durch andere ersetzt werden können“.

Als Eisner nach der verlorenen Wahl von seinem Amt zurücktreten wollte, erschoss ihn ein rechtsextremer Attentäter. In einem Racheakt schoss der revolutionär gesinnte Arbeiter Alois Lindner auf den Vorsitzenden der bayerischen SPD, Erhard Auer, und verletzte ihn lebensgefährlich. In Panik löste sich der Landtag auf. Er trat nur noch einmal zusammen, um Johannes Hoffmann (SPD) als Nachfolger Eisners zu wählen. Auer fiel weiter aus.

Dank des Rätesystems wurde politischer Wille vollzogen

Das entstehende Vakuum füllten umgehend die Räte. Ein Zentralrat wurde gebildet, zunächst nach Parteien-, nicht nach Wahlproporz. Parteien rechts der Mitte hatten keinen Zugang, sie lehnten ein solches Gremium ohnehin ab. Die SPD sicherte sich eine Mehrheit. Bis zur ersten Aprilwoche wuchs der Druck auf den Zentralrat immer stärker an. Ein Grund war die Untätigkeit des gewählten Parlaments. Der andere Grund war die Verzögerungstaktik und Blockadehaltung der SPD. Sie wollte im Prinzip nur zuwarten, bis das Parlament seine Tätigkeit wieder aufnahm. Das war den Räten an der Basis, also den regionalen und lokalen Organisationen, zu wenig.

Von Augsburg aus kam die Initiative, eine Räterepublik nach russischem und ungarischem Vorbild, aber ohne die Dominanz einer Partei zu errichten. Dank des funktionierenden Systems wurde der politische Wille tatsächlich nach oben getragen, in München diskutiert und auch vollzogen. Bayern wurde Räterepublik. Die Regierung bildete ein Revolutionärer Zentralrat. Dessen Vorsitz hatte zunächst der SPDler Ernst Niekisch inne. Er war entschiedener Befürworter des Rätesystems und schien persönlich integer. Doch misstraute man der Partei und ersetzte ihn nach drei Tagen durch Ernst Toller (USP).

Auch in der zweiten Räterepublik, in der nach Niederschlagung eines Putschs von rechts die Kommunisten die Regie übernahmen, dominierten keineswegs Parteien. Aus der Berliner KP-Zentrale kam die Direktive, die Finger von der Macht in Bayern zu lassen, die Zeit sei noch nicht reif für Experimente. Die Münchner und bayerischen Anführer setzten sich über die Order hinweg. Max Levien und Eugen Leviné wollten künftigen Generationen ein Beispiel geben, selbst wenn sie sich, wie Leviné später formulierte, als „Tote auf Urlaub“ vorkamen.

Der letzte Akt blieb wieder den Räten und der USP vorbehalten. Als sich die Räterepublik, in Verteidigungszustand gesetzt, der gegenrevolutionären Invasion von vorläufiger Reichswehr und Freikorps gegenübersah, wurden KPDler aus dem Vollzugsrat und dem inzwischen gebildeten Aktionsausschuss an dessen Spitze ausgeschlossen. Ernst Toller versuchte zu retten, was nicht mehr zu retten war. Die von ihm vorgeschlagenen Verhandlungen lehnte die Gegenseite ab. Ministerpräsident Ebert und Reichswehrminister Noske, beide SPD, wollten einen vollständigen Sieg: über die Revolution, über die Räte, über die Bewegung, deren Aktivisten 175 Tage lang versucht hatten, Bayern einmal anders als auf übliche Art zu regieren. Das Experiment wurde bislang nicht wiederholt.

Der Autor ist Historiker und hat zuletzt das Buch „Das Wintermärchen. Schriftsteller erzählen die bayerische Revolution und Münchner Räterepublik 1918/19“ (Edition Tiamat, 2017) veröffentlicht.