Hundert Jahreund kein Vergessen

Fast 10 Millionen Soldaten starben im Ersten Weltkrieg 1914–1918, für die Siegernationen Frankreich und Großbritannien war es der blutigste Krieg ihrer Geschichte. Das Gedenken an die 1,4 Millionen französischen und 900.000 britischen Gefallenen prägt bis heute die Erinnerungskultur beider Länder. Am Sonntag begehen die Regierungen in Paris und London den 100. Jahrestag des Kriegsendes

1917: Britische und französische Soldaten beobachten ein deutsches Flugzeug. Haben sie überlebt? Foto: Ann Ronan Picture Library/Photo12/afp

Kapitulation Nach über vier Jahren Krieg ging der Erste Weltkrieg am 11. 11. 1918 mit der Kapitulation Deutschlands zu Ende. Seine Verbündeten Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich hatten schon die Waffen gestreckt und waren als Staaten zerfallen. Die alliierten Siegermächte um Frankreich, Großbritannien, die USA und Italien errichteten mit dem Versailler Vertrag und dem Völkerbund eine Nachkriegsordnung, die aber nicht lange Bestand hatte.

Massensterben 70 Millionen Soldaten kämpften weltweit, davon fielen 10 Millionen im Gefecht, 2 Millionen starben an Krankheiten und 6 Millionen wurden vermisst. Dazu kommen rund 8 Millionen tote Zivilisten, zumeist Opfer von Hunger und Seuchen.

Morts pour la France

Unter dem Triumphbogen zelebriert die Republik sich selbst. Zu Macron werden sich Trump, Putin und Merkel gesellen, um der Toten zu gedenken

Die Jahrhundertfeier ist ein Anlass, Selbstbewusstsein aufzufrischen, aber auch angesichts neuer nationalistischer Ressentiments warnend auf die Gefahr neuer Konflikte hinzuweisen

Aus Paris Rudolf Balmer

Seit Langem nimmt der Erste Weltkrieg im französischen Geschichtsbild und im Nationalstolz einen besonderen Platz ein. Wer durch die Lande fährt und auch in den kleinen Ortschaften Halt macht, wo es mittlerweile keine Post, keine Läden und erst recht kein Wirtshaus mehr gibt, wird feststellen, dass wenigstens noch das Denkmal mit der Namensliste der zwischen 1914 und 1918 „für das Vaterland gefallenen Söhne“ unverändert auf dem Dorfplatz steht. Dort zelebrieren an jedem 11. November die angetretenen Vertreter der Veteranenverbände mit ihren Regimentsfahnen und Orden an der Brust vor dem Bürgermeister und ein paar Schulkindern die obligate Heldenfeier an diesem arbeitsfreien Tag.

Hundert Jahre nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands, der dem Völkergemetzel in den Schützengräben ein Ende setzte, reicht diese Jubiläumsroutine selbstverständlich nicht. Die Jahrhundertfeier ist ein Anlass, die Geschichtskenntnisse und das Selbstbewusstsein einer Siegernation aufzufrischen, zugleich aber auch angesichts neuer nationalistischer Ressentiments warnend auf die Gefahr neuer Konflikte hinzuweisen. Im Hinblick auf die kommenden Europawahlen empfiehlt sich dabei Präsident Emmanuel Macron als Führer der „Fortschrittlichen“ Europas gegen den Nationalismus der Populisten.

Andere sehen Anlass zu Reue oder Wiedergutmachung: So zum Beispiel die westafrikanischen Nachkommen der „Tirailleurs sénégalais“, der damals meist zwangsrekrutierten 200.000 Soldaten aus Frankreichs afrikanischen Kolonien, die an der Front als Kanonenfutter dienten. Sie erhalten in diesen Tagen in der Stadt Reims, die von der „Armée noire“ mit hohen Verlusten gegen die Offensive des deutschen Kaiserreichs verteidigt worden war, ein Denkmal – eine Nachbildung einer Skulptur, die nach 1940 von den deutschen Besatzern zerstört worden war.

Ganz am Rande gedenkt man heute auch der mehr als tausend als Deserteure füsilierten Franzosen, die häufiger wegen Verweigerung unsinniger Befehle als wegen Verrats oder Fahnenflucht exekutiert worden waren. Mit diesen Opfern auf einem Nebenkriegsschauplatz haben die offiziellen Zeremonien immer noch Mühe. Besser ins Jubiläumsprogramm passt da eine Ausstellung zu Ehren des als „Vater des Siegs“ gefeierten „Tigers“ Georges Clémenceau, Frankreichs Staatsoberhaupt von 1917 bis 1920, unter dem Titel „Der Mut der Republik“. Ins Panthéon überführt werden demnächst und stellvertretend für eine Generation auch die sterblichen Überreste des Schriftstellers Maurice Gene­voix, der als Offizier an der Front den Krieg aus der Schützengrabenperspektive beschrieben hat. Das kündigte Macron jetzt termingerecht an.

Offensichtlich dient der heutigen Staatsführung die Jahrhundertfeier dazu, sich und die Französische Republik im In- und Ausland mit historischen Lorbeeren zu schmücken. Der Präsident weiß, wie populär die Helden von 1914–1918 sind, aber auch, wie sehr er selbst seit seinem Amtsantritt 2017 viele Landsleute enttäuscht hat. Seine Kommunikationsexperten haben sich dazu etwas einfallen lassen: Als „Schlachtenbummler“ ist Macron am 4. November auf eine einwöchige Pilgerreise durch historische Kriegsschauplätze in Ost- und Nordfrankreich aufgebrochen, wo er Begegnungen mit dem Volk plant.

Mit dem etwas veralteten und wenig gebräuchlichen Ausdruck „itinérance“ – das reimt sich mit France und „espérance“ (Hoffnung) – betitelt der politische Jubiläumswanderer dieses Besuchsprogramm. Es führt ihn von Straßburg im vor hundert Jahren noch deutschen Elsass, wo er sich am Sonntag zusammen mit seinem deutschen Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier ein Konzert anhörte, durch Lothringen nach Verdun, danach von Reims über einstige Schlachtfelder an der französisch-belgischen Grenze bis nach Compiègne, wo vor hundert Jahren in einem Salonwagen der Eisenbahn der Waffenstillstand unterzeichnet wurde.

Für die Hauptfeier in Paris am Sonntag lässt Macron nicht weniger als 60 Staats- und Regierungschefs und 120 andere Ehrengäste kommen. Am Abend zuvor sind sie im Musée d’Orsay zu einem Galadiner zur Feier des Friedens in Europa eingeladen. Unter dem Triumphbogen wird Macron im Beisein seiner Gäste – erwartet werden Donald Trump, Wladimir Putin und Angela Merkel – die Flamme auf dem Grab des Unbekannten Soldaten entzünden.

Am selben Tag wird auf der Außenmauer des Friedhofs Père Lachaise eine 280 Meter lange Tafel enthüllt, auf der die 94.415 Soldaten aus der Hauptstadt aufgeführt sind, die an der Front des Ersten Weltkriegs umkamen, und auf dem Boden vor dem Invalidendom eine riesige Freske eines zeitgenössischen Vertreters der Streetart, Crey 132. Niemand soll sagen, das Gedenken sei bloß eine Sache ergrauter Veteranen.

The Glorious Dead

Am Zenotaph ehren Schweigeminuten und Glocken nicht nur britische Tote, sondern auch die Überwindung von Nationalismus. Mit Steinmeier und Queen

Die britische Kriegsgräberkommission gibt an, dass ihre größte Veranstaltung im belgischen Saint-Symphorien stattfindet. Dort liegen der erste und letzte britische Gefallene, Deutsche und Briten seien gleich

Aus London Daniel Zylbersztajn

Mit einem Lichtermeer aus zehntausend Fackeln wird der Londoner Tower bis zum kommenden Sonntag jeden Abend illuminiert. Jede Fackel steht für einen der 1.017.167 Menschen, die nach Angaben der britischen Kriegsgräberkommission im Ersten Weltkrieg für Großbritannien ihr Leben ließen. Der Festungsgraben der einstigen königlichen Burg war schon 2014 zum Gedenken an den Kriegsbeginn Ausstellungsort für 888.246 rote Mohnblumen aus Porzellan, eine für jeden Gefallenen, nach dem Gedicht „In Flanders Fields“ des kanadischen Feldarztes John McCrae (1872–1918), das zum Symbol der Erinnerung an das Massensterben junger Briten auf den blühenden Wiesen Flanderns geworden ist.

Am Sonntag ist in London auch Bundespräsident Steinmeier zur traditionellen jährlichen Kranzniederlegung geladen, am Zenotaph in Whitehall, in Anwesenheit der Queen. Einer der Höhepunkte wird dieses Jahr eine Prozession von 10.000 zufällig ausgewählten Personen, die nach der offiziellen Veranstaltung am Zenotaph unter Glockengeläut von allen Seiten und von überall in der Welt an das Denkmal herantreten und Kränze niederlegen können.

Großbritannien sieht das Kriegsgedenken als Anlass zur grenzüberschreitenden Besinnung. Die britische Kriegsgräberkommission gibt an, dass ihre größte Veranstaltung am Samstag im belgischen Saint-Symphorien stattfindet. Dort liegen der erste und letzte britische Gefallene des Ersten Weltkriegs, ebenso die allerersten Träger sowohl des Eisernen Kreuzes als auch des Victoria-Ordens. Für die Kommission ist es der ideale Ort, da hier Deutsche und Briten gleich sind, wie ein Sprecher erklärt: Es gehe hier um die Geschichte jeder einzelnen Person.

Auch Premierministerin Theresa May wird Saint-Symphorien am Freitag besuchen und dann mit Emmanuel Macron im französischen Albert am Thiepval-Denkmal einen Kranz niederlegen, bevor sie am Wochenende in London am offiziellen Gedenken teilnimmt. May bezeichnete es als Gelegenheit, „zusammenzukommen, um uns der immensen Opfer des Krieges zu besinnen, aber auch um uns mit unseren deutschen Freunden zusammenzuschließen, um die Versöhnung und den Frieden zwischen unseren beiden Ländern zu bekräftigen“

Das Gedenken ist aber nicht nur eine staatliche Angelegenheit. Wie jedes Jahr werden am „Remembrance Sunday“ Punkt 11 Uhr überall in Großbritannien kollektiv zwei Schweigeminuten eingehalten, aber auch mehr: Auf einer amtlichen Karte sind mehrere tausend Orte eingetragen, in denen dieses Jahr Glocken läuten, Lichtstrahlen in die Nacht leuchten oder sonstige Feierlichkeiten stattfinden.

Was macht die zentrale Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die nationale Psyche Großbritanniens aus? Laura Clouting, Historikerin des Imperial War Museum, deren neues Buch „A Century of Remembrance“ die aktuellen Ausstellungen begleitet, nennt im Gespräch mehrere Gründe. In keinem anderen Krieg starben so viele Briten. Und anders als im Deutschen Reich war die Teilnahme am Krieg freiwillig – Regimenter repräsentierten oft ganze Stadt- und Dorfgemeinschaften, die bei Verlusten dann stark getroffen waren, zumal die Gefallenen nicht repatriiert wurden. „So war von Anfang an gemeinsame Erinnerung bedeutsam“, sagt sie.

Als die Zeitzeugen ausstarben, erhielt die Erinnerung Auftrieb, sagt Clouting. Merkmal sei ein zunehmendes Interesse an Einzelschicksalen. Dies dominiert die unzähligen Beiträge in Theater, Fernsehen und Radio.

Seit jeher sind künstliche rote Mohnblumen, die „Poppies“, die man sich im Herbst bis zum 11. November an die Brust steckt, in Großbritannien ein sichtbares Zeichen der kollektiven Anteilnahme. Sie werden von der British Royal Legion gegen Spenden vergeben, das Geld hilft Kriegsveteranen. Schon seit 1933 gibt es aber die konkurrierenden weißen „Poppies des Friedens“, die heute die pazifistische Peace Pledge Union (PPU) herausgibt. Lange Zeit waren die weißen Blumen im Mainstream verpönt. Aber heute, sagt Symon Hill von der PPU, seien sie beliebt wie nie. „Viele verwerfen die Idee, dass der Krieg für die britische Freiheit notwendig war“, sagt er der taz. Die roten Poppies stünden nur für die britischen Toten, die weißen aber für alle.

Doch auch Hill ist sich der progressiven Folgen des Krieges bewusst, etwa das Frauenwahlrecht. Und der Londoner Professor Gurharpal Singh – letzte Woche eröffnete er in Birmingham ein Denkmal für Sikh-Soldaten – verweist auf überraschende Kriegsfolgen im „Empire“, vor allem in Südasien. „Viele schrieben zurück nach Indien mit der Frage, weshalb sie den Krieg der Weißen kämpfen sollten. Als die Leute von der Front zurückkehrten, begannen sie fast sofort den Widerstand, der später zur Unabhängigkeit führte.“