„Es war eine Atmosphäre der Gewalt“

In der Novemberrevolution standen Friedrich Ebert und Rosa Luxemburg auf zwei Seiten der Barrikaden. 100 Jahre später bilanzieren Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Ereignisse

1907, Reichsparteischule der SPD. Dozentin Rosa Luxemburg (stehend, vierte von links), August Bebel (stehend, fünfter von links), Friedrich Ebert (links in der dritten Bank der rechten Bank­reihe) Foto: AdsD/Friedrich-Ebert-Stiftung

Interview Uwe Rada

Herr Woyke, wann haben Sie zuletzt die Parole gehört: Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten.

Meik Woyke: Das hört man immer wieder einmal. Ich finde das historisch aber ziemlich undifferenziert. Wenn man auf die Revolution von 1918/19 schaut, dann hat die SPD ein gewaltiges Stück dazu beigetragen, dass aus der Krise keine Katastrophe wurde.

Wie ist das in der Rosa-Luxemburg-Stiftung? Fällt da mal so ein Spruch?

Uwe Sonnenberg: Wenn, dann ironisierend. Im Ernst würde den heute keiner mehr von sich geben. Auf der Straße kriege ich den aber immer mal wieder zu hören. Wobei ich nicht genau weiß, auf wen er sich bezieht. Welchen Verrat haben die Sozialdemokraten begangen?

Was ist Ihre Vermutung?

Uwe Sonnenberg: Ich selbst sehe es im Zusammenhang mit der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten 1914. Aber wer was finden will, findet bestimmt auch zeitgenössische Verratsmomente, bis hin zu Hartz IV.

Sie sind beide Historiker. Wenn Sie sich heute in diese Zeit hineinversetzen, können Sie da etwas von der Emotionalität, die hinter solchen Vorwürfen steckt, nachvollziehen? Etwa wenn Rosa Luxemburg einen Tag vor ihrer Ermordung schrieb: „Ordnung herrscht in Berlin. Ihr stumpfen Schergen. Eure ‚Ordnung‘ ist auf Sand gebaut.“

Uwe Sonnenberg: Wenn ich mit der Erwartungshaltung herangehe, jetzt endlich konkrete Schritte Richtung Sozialismus gehen zu können, und wenn dann die Revolution stecken bleibt, dann kann ich die Enttäuschung gut nachempfinden.

Können Sie auch das Argument von Herrn Woyke nachempfinden, wenn er sagt, die SPD habe dafür gesorgt, dass aus der Krise keine Katastrophe wurde?

Uwe Sonnenberg: Die große Bürgerkriegsgefahr sehe ich nicht. Ich sehe auch nicht die Alternative, die da aufgebaut wurde zwischen parlamentarischer Demokratie und Bolschewismus.

Meik Woyke: Aus meiner Sicht ist es eine erfolgreiche Revolution. Eine Überführung des revolutionären Zustandes in die Demokratie. Die Revolution von 1918/19 ist der Grundstein für die Gründung der Weimarer Republik auf Grundlage der legitimen Herrschaftsgewalt, nämlich der parlamentarischen, verfassunggebenden Nationalversammlung. Friedrich Ebert hat in dieser historischen Situation Verantwortung übernommen.

Welche?

Meik Woyke: Er hat gesagt: Ich bin im Rat der Volksbeauftragten eingesetzt worden, um eine Phase des Übergangs zu gestalten. Wichtig war für ihn, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen und keine Anarchie herrschen zu lassen. Deshalb setzte er das ehemals kaiserliche Militär ein, was natürlich eine schwierige Entscheidung war.

Berlin feiert im November hundert Jahre Novemberrevolution. Kann man, Herr Sonnenberg, auch eine stecken gebliebene Revolution feiern?

Uwe Sonnenberg: Politisch gibt es einiges, was als Erfolg gefeiert werden kann. Innerhalb von Stunden wurden die Monarchie abgeschafft und eine Republik gegründet. Einen Elitenwechsel aber hat es weder im Militär noch in der Verwaltung gegeben, die Wirtschaft wurde nicht demokratisiert. Es war keine soziale Revolution.

Meik Woyke: Es war doch in weiten Teilen eine soziale Revolution. Am 12. November 1918 wurde das Frauenwahlrecht eingeführt, eine alte sozialdemokratische Forderung. Es wurde die Vereins- und Versammlungsfreiheit festgeschrieben, die Pressefreiheit wurde garantiert. Die Arbeitsschutzbestimmungen wurden wieder in Kraft gesetzt. Zudem wurde der Achtstundentag eingeführt. Und die Gewerkschaften wurden als Tarifpartner anerkannt.

Herr Sonnenberg, woher nehmen Sie die Gewissheit, dass die Revolution, wäre sie weitergegangen, erfolgreich gewesen wäre? Wenn wir auf die Wahlen zur Nationalversammlung 1919 schauen, gab es für SPD und USPD keine absolute Mehrheit.

Foto: Christina Kloodt

Meik Woyke ist Historiker und leitet das Referat „Public History“ im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Uwe Sonnenberg: Ich gebe Ihnen völlig recht, die Wahlergebnisse sprechen für sich. Ich habe keine Gewissheit, dass die Revolution hätte erfolgreich weitergetrieben werden können. Ich verstehe nur die Enttäuschung derjenigen, die sie weitertreiben wollten. Und offenbar gab es bei den damals so genannten Regierungssozialisten auch nicht den Anspruch, weiterzugehen.

Meik Woyke: Wer wollte denn mehr? Der Reichsrätekongress, der vom 16. bis 21. Dezember tagte, sprach sich mit einer überwältigenden Mehrheit für eine verfassunggebende Nationalversammlung aus. Das ist doch ein deutliches Zeichen einer politischen Stimmung in der Arbeiterschaft.

Uwe Sonnenberg: Aus einer machtpolitischen Perspektive muss man schon Anerkennung zollen, was Ebert da schaffte. Zuerst die Revolution aufhalten wollen und sich dann an ihre Spitze zu setzen und zweigleisig zu fahren, ist eine taktische Meisterleistung.

Fehlte der Linken ein Lenin?

Uwe Sonnenberg: Wo wir uns einig sind: Es gab keine politische Kraft, die ein Konzept für die Revolution hatte und auf den 9. November vorbereitet war.

Meik Woyke: Dass Ebert politisch geschickt agierte, liegt auf der Hand. Aber es diente dem Allgemeinwohl und der sozialdemokratischen Sache. Und er erreichte sein Ziel.

Damit haben Sie auch erklärt, was Sie heute als das Vermächtnis von Friedrich Ebert sehen und weshalb die 1925 nach Eberts Tod gegründete und von den Nazis verbotene Stiftung seit den 50ern wieder seinen Namen trägt. Aber warum, Herr Sonnenberg, hat sich die parteinahe Stiftung der PDS nach Rosa Luxemburg benannt? An welche Rosa Luxemburg wollen Sie erinnern?

Uwe Sonnenberg: Nicht an die „blutige Rosa“, die in einigen Texten immer noch auftaucht. Nicht dieses Zerrbild, die Märtyrerin der Novemberrevolution, nicht die tote Rosa. Sondern die lebendige Rosa, ihr Leben, ihr Denken. Sie verkörpert am besten, was demokratischer Sozialismus hätte werden können. Es geht auch darum, ihr gegen diese Zerrbilder historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Wie ist das bei Ihnen, Herr Woyke, über welchen Friedrich Ebert sprechen Sie lieber? Den in der Revolution oder den späteren Reichspräsidenten?

Meik Woyke: Es ist der gesamte Friedrich Ebert. Als erster Reichspräsident der Weimarer Republik hat Ebert sich um die Einführung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland verdient gemacht. Dazu kommt seine gesamte Biografie, sein Bildungsaufstieg vom einfachen Handwerker bis ins höchste Staatsamt.

Sind sich Ihre beiden Namenspatrone eigentlich jemals persönlich begegnet?

Uwe Sonnenberg: Ja, natürlich. Friedrich Ebert war Schüler von Rosa Luxemburg in der Parteihochschule. Ich weiß aber nicht, ob er der beste Schüler war.

Meik Woyke: Da sieht man, welche Wege das Leben nehmen kann.

Foto: privat

Uwe Sonnenberg ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin.

Sind beide auch Personen, an denen entlang man die Spaltung der Arbeiterbewegung und der Linken erzählen kann?

Uwe Sonneberg: Klar. In beiden Figuren kulminieren die verschiedenen Linien der Linken. Sowohl Verratsvorwürfe als auch die Tiefe der Gräben, die während der Novemberrevolution mit Blut gefüllt wurden, durch einen Terror, der mit der Notwendigkeit von Ruhe und Ordnung gegen das Chaos begründet wurde. Diese Gräben sind in den Figuren Rosa Luxemburg und Friedrich Ebert unauflösbar verbunden. Letztendlich lässt sich aus der Novemberrevolution lernen, wie Linke nie wieder miteinander umgehen sollten, und zwar auf allen Seiten.

Meik Woyke: Friedrich Ebert übte mit Sicherheit keinen Terror aus. Die Spaltung der Arbeiterbewegung ging mitunter quer durch den eigenen Küchentisch. Der Sohn war vielleicht USPD, der Vater SPD, die Tochter tendierte zur KPD. Das konnte sich aber auch wieder auflösen. Daran merkt man außerdem den volatilen Charakter solcher Bindungen.

Was bedeuten der Ebert-Stiftung die Toten der Revolution? Alleine bei den Märzkämpfen gab es 1.200 Tote. Und ein Sozialdemokrat, Gustav Noske, gab den Schießbefehl.

Meik Woyke: Selbstverständlich ist der Toten der Revolution ehrend zu gedenken. Aber schon in der Weimarer Republik und dann in der DDR ist es Mode geworden, den vermeintlichen Verrätern der Revolution und der Arbeiterklasse, Ebert und Noske, den Tod dieser Menschen in die Schuhe zu schieben. Noske, der den Befehl gab, im März die Freikorps einzusetzen, unterlag einer bewussten Fehlinformation aus Militärkreisen. Aber dennoch bleibt dieser berühmt-berüchtigte elende Schießbefehl von Noske illegitim, er war ein Fehler.

Uwe Sonnenberg: Die SPD trägt die politische Verantwortung in diesem Staatswerdungsprozess. Ich finde es noch einmal wichtig, deutlich zu machen, welche Rolle die Gewalt, der politische Terror spielten. Legenden gab es auf beiden Seiten. Dennoch: Die politische Verantwortung, gegen die eigene Bevölkerung auch Kriegswaffen einzusetzen und dafür die antirepublikanische Rechte zu Hilfe zu nehmen, lag auf der Seite der Regierungssozialisten.

Meik Woyke: Der Rat der Volksbeauftragten hat Verantwortung übernommen und ist in die Situation hineingeraten. Wenn Sie sehen, dass die Mörder von Luxemburg und Liebknecht viel zu lasch verurteilt wurden, aber auch gleichzeitig sehen, dass Ebert dann als Reichspräsident im Oktober 1919 die Anerkennung dieses Urteils verweigerte, dann sehen Sie, dass das nicht seine Intention gewesen ist. Dass er diese Entwicklung bedauert hat. Ja, es war eine Atmosphäre der Gewalt, auch eine Sprache der Gewalt, aber auf fast allen Seiten.