Japanische Bäckergesellin in Berlin: Im Land der Brötchen

Ihr Handwerk hat Tomomi Miyazawa in der Brotdiaspora Japan gelernt. Von einer Reise nach Deutschland träumte sie lange. Sie kam – und blieb.

Eine Frau in Bäckerkleidung hält ein Blech Streuselkuchen in beiden Armen

Blech und Blech wird produziert: Tomomi Miyazawa in der Bäckerei Siebert Foto: Ksenia Les

Wer in der Bäckerei Siebert arbeitet, braucht ein Profil. Sonst besteht Gefahr, auf dem mehligen Boden auszurutschen. Deshalb trägt Tomomi Miya­zawa auch Joggingschuhe, mit denen sie unbesorgt herumflitzen, sich drehen und auf dem Punkt stoppen kann. Die kleine Backstube, in der sie arbeitet, ist so vollgestopft mit Geräten, Menschen und Regalen, dass das Backen hier einem Hindernislauf gleicht. Dabei gilt die Regel: Der Ofen hat immer Vorrang.

Unzählige Male am Tag rennt die 34-jährige Bäckergesellin mit kiloweise Gebäck zwischen der Backstube und dem Ladengeschäft von Berlins ältester Bäckerei hin und her. Allein an diesem Mittwochmorgen transportiert sie mehr als 2.000 Schrippen, 350 Pfannkuchen und 300 Brote.

Tomomi Miyazawa ist Japanerin. Schon als Kind war ihre liebste Mahlzeit das Frühstück – die einzige Mahlzeit, bei der in Japan Brot gegessen wird, sagt sie. Unter der Woche gab es bei ihren Eltern Käsetoast und Gemüsesuppe, am Wochenende japanische Milchbrötchen vom Bäcker. „In der Backstube hat es immer so gut gerochen“, sagt sie. Als sie dann ein Brotbackbuch geschenkt bekam, stand ihr Berufswunsch fest.

Das Handwerk lernte sie in Tokio, wo sie sieben Jahre lang in einer Backstube arbeitete. Kurz vor ihrem 30. Geburtstag erfüllte sie sich dann einen Traum: ins Land der Brötchen zu reisen. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es so viele Brötchensorten wie in Deutschland, und nichts fasziniert Tomomi Miyazawa so sehr wie dieses kleine Gebäck, das mit Mohn, Sesam und Käse bestreut oder mit Schokoladenstückchen und Rosinen gefüllt werden kann.

Dirndl, Würstchen, „Dschingis Khan“

Deutschland, das war für Miyazawa Dirndl, Würstchen und der Schlager „Dschingis Khan“. „Ich war damals ziemlich Klischee“, sagt sie. Im Rahmen von Work and Travel flog sie nach Berlin, von dort aus wollte sie ein Jahr lang durch deutsche Backstuben reisen und dann nach Japan zurückkehren. Doch es kam anders. Aus einem einmonatigen Praktikum bei der Bäckerei Siebert wurde eine Vollzeitstelle als Gesellin.

Zu Beginn fiel ihr das frühe Aufstehen am schwersten. In Tokio musste sie erst um 6 Uhr morgens anfangen, in Berlin geht es drei Stunden früher los. „Aber noch lieber als schlafen mag ich backen“, sagt Miyazawa. So sehr, dass sie während ihrer Anfangszeit, als sie noch in einer WG am Stadtrand wohnte, jede Nacht 50 Minuten mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr.

Um 3 Uhr morgens ist Miyazawas T-Shirt blütenweiß. Am Ende des Arbeitstages sieht es aus wie ein Gemälde von Jackson Pollock

Auch an diesem Mittwoch geht es um 3 Uhr los. In den ersten Stunden des Bäckereiarbeitstages wird wenig gesprochen, es gibt viel zu erledigen. Akribisch arbeitet Tomomi Miyazawa ihre To-do-Liste ab. Der Espresso in ihrem Kaffeebecher ist ihr Benzin. Die Außenwelt dringt nur durch das Radio herein.

Als Erstes backt Miyazawa Splitterbrötchen, eine Berliner Spezialität, die aus Hefeteig besteht, der mit Margarineflocken und Zucker verfeinert wird. Frisch aus dem Ofen sind sie außen schön knusprig, innen butterweich und von einer dünnen Schicht Karamell durchzogen. „Mir schmecken sie am besten warm“, sagt Miyazawa. Splitterbrötchen gehören zu ihrem Lieblingsgebäck, sie erinnern sie an eine Sorte aus der Heimat.

Die Portugiesen brachten das Brot

Nach Japan kam das Brot im 16. Jahrhundert mit katholischen Missionaren aus Lissabon. Seitdem ist es unter dem portugiesischen Namen „Pan“ bekannt. Etablieren konnte es sich aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als amerikanische Soldaten das Toastbrot mitbrachten. Bäckereien, die sich auf deutsche Backwaren spezialisiert haben, bilden die Ausnahme. Sauerteig ist in Japan eher etwas für den geschulten Gaumen.

Zu Miyazawas Zeit in der Tokioter Bäckerei wurde gebacken, was den Großstädtern schmeckte. Sogar Stollen. Neben europäischen Spezialitäten bot der Betrieb auch japanische Interpretationen an: herzhafte Krapfen zum Beispiel mit Curry, Fleisch und Gemüse gefüllt. Besonders gut sei außerdem Weißbrot gegangen, erzählt Tomomi Miyazawa – für japanische Verhältnisse, mehr als vier bis fünf helle Brote pro Tag waren es nicht. Die geringere Nachfrage hat wohl auch finanzielle Gründe: In Japan kostet ein Brötchen umgerechnet einen Euro, was auch daran liegt, dass fast aller Weizen importiert werden muss.

In der Backstube Siebert operiert Tomomi Miyazawa nun aus Hunderten von Zwetschgen die Kerne heraus, sie sieht dabei so konzentriert aus wie eine Chirurgin. Dann bemalt sie ein Blech Hefeschnecken mit Zuckerguss, „dekorazieren“ nennt sie das, ihre eigene Wortkreation aus „dekorieren“ und „verzieren“.

Schlag auf Schlag geht es weiter. Miyazawa bestreicht 30 Plunderteile mit Marmelade. Löst Aprikosenkuchen vom Blech. Befreit 12 Kastenbrote aus ihren Formen und stapelt sie im Regal. „Ich brauche Tempo“, sagt sie. Zu Beginn des Tages war ihr T-Shirt noch blütenweiß, jetzt sieht es aus wie ein Gemälde von Jackson Pollock.

Das Mehl sieht aus wie eine Kriegsbemalung

Statt einer Bäckermütze trägt Tomomi Miyazawa ein Kopftuch, wie schon in Tokio, da machen es alle so. Mit ihren 1,56 Meter und ihrer zarten Statur ist für sie vieles anstrengender als für ihre größeren und kräftigeren Kolleg*innen. Doch sie gleicht ihre fehlende Größe mit Willenskraft aus. Das Mehl auf ihren Wangen sieht aus wie eine Kriegsbemalung. Mit ihrem Kollegen wendet sie ein ums andere Mal die gewaltigen Kippdielen, große, flache Holztabletts, auf denen die Schrippen zum Aufgehen liegen. Nur an das fünfte Fach des Ofens reicht sie nicht heran. Das ärgert sie.

Anders als in Deutschland ist der Bäckerberuf in Japan traditionell weiblich geprägt, erzählt Miyazawa. In Tokio war nur ihr Chef männlich, und der führte ein eisernes Regiment. Wenn er die Backstube betrat, dann nur, um die Anweisung zu geben, dass schneller gearbeitet oder weniger gequatscht werden soll. In Deutschland macht Bäckermeister Lars Siebert auch schon mal den Abwasch.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Noch fünf Minuten, dann öffnet vorne das Ladengeschäft. Tomomi Miyazawa läuft mit einem Korb voll warmer Brötchen den schmalen Flur entlang, vorbei an den Servierwagen, auf denen Spritzkuchen, Makronen und Rumkugeln warten. Anschließend verpackt sie lange weiche Brötchen in Kisten. Ein japanischer Hotdog-Laden aus der Nachbarschaft hat sie bestellt. „Wir stehen sogar im japanischen Reiseführer“, sagt Chef Siebert und sieht stolz dabei aus.

Um 8.45 Uhr beißt Tomomi Miyazawa zum ersten Mal von ihrem belegten Brötchen ab. Das Gröbste ist geschafft. Bis zu ihrem Feierabend um 11 Uhr muss nur noch ab und zu eine Fuhre Schrippen nachgebacken werden, damit die immer schön warm in den Laden kommen. Ein Kollege und Miyazawa kabbeln sich: Als sie sagt, dass sie gern Pfannkuchen mit Pflaumenmusfüllung mag, sagt er: „Ach komm, am liebsten isst du doch die mit Eierlikör.“

Manches deutsche Rezept ist nicht nach ihrem Geschmack, sagt Miyazawa. Der Schrippenteig ist ihr zu salzig, die Schwarzwälder Kirschtorte zu süß. Seit sie in Berlin lebt, esse sie gern Matchakekse, in Japan hatte sie die nie besonders gemocht. Ihrem Chef will sie eine asiatische Brotspezialität aus Kürbisteig und Nüssen vorschlagen. Für ein bisschen mehr Tokio in Berlin.

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