pakistan
: Der Einfluss der Taliban

Die religiöse Radikalisierung in Pakistan ist ein Problem für das Land und die gesamte Region. Zeit für Gespräche mit China und Russland

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Britta Petersen

ist Senior Fellow bei der indischen Denkfabrik Observer Research Foundation (ORF) in Neu-Delhi und Mitglied im Korrespondentennetzwerk „weltreporter.net“. Bis 2014 war sie Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Pakistan.

Der Freispruch für die wegen angeblicher Blasphemie zum Tode verurteilte pakistanische Christin Asia Bibi durch das Oberste Gericht in Islamabad ist eine gute Nachricht. Ihr Fall wird uns jedoch auf absehbare Zeit weiter beschäftigen. Religiöse Fanatiker in Pakistan trachten ihr nach wie vor nach dem Leben. Dass die Katholikin ermordet werden könnte, ist daher keine entfernte Möglichkeit, sondern recht wahrscheinlich, denn der pakistanische Staat tut wenig, um seine Staatsbürger zu schützen.

Bereits 2011 wurden zwei Politiker auf offener Straße erschossen, die sich für die Freilassung von Asia Bibi eingesetzt hatten: der Gouverneur der Provinz Punjab, Salman Taseer und der Minister für Minderheiten, Shahbaz Bhatti, der einzige Christ im Kabinett des damaligen Premierministers Yusaf Raza Gilani. Der neue Premierminister Imran Khan ist bereits unter dem Druck der Fanatiker eingeknickt und unterzeichnete ein Abkommen mit der radikalislamischen Partei Tehreek-e-Labbaik, wonach die 51-Jährige Mutter von fünf Kindern das Land nicht verlassen darf.

Die unrühmliche Debatte in Europa darüber, ob und wer dieser armen Frau, die zehn Jahre lang unschuldig in der Todeszelle saß, vielleicht Asyl gewähren könnte, ist Anlass genug, über den größeren politischen Kontext dieses Falls nachzudenken. Die religiöse Radikalisierung in Pakistan ist auf vielerlei Weise mit Europa verbunden und stellt auch für die Zukunft eine erhebliche Bedrohung dar. Unabhängig von der Frage des Asyls für Asia Bibi muss daher erneut eine Diskussion über Pakistan und in diesem Zusammenhang auch Afghanistan auf die Tagesordnung.

Historisch stammen die Blasphemiegesetze in Südasien allesamt aus der britischen Kolonialzeit. Verschärft wurden diese in Pakistan unter Militärdiktator Zia ul-Haq, einem religiösen Eiferer, der eine wichtige Rolle in dem vom Westen unterstützen Kampf gegen die Sowjetbesatzung in Afghanistan spielte. Spätestens in seiner Regierungszeit von 1978 bis 1988 begann eine gezielte Radikalisierung der pakistanischen Gesellschaft, gekennzeichnet durch eine Ideologisierung der Lehrpläne an Schulen und Universitäten sowie die Einführung der sogenannten Hudood Ordinances, die darauf zielten, pakistanische Gesetzgebung in Einklang mit der islamischen Scharia zu bringen. Diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass Islamisten in Pakistan heute über erheblichen Rückhalt in der Bevölkerung verfügen und selbst populäre Politiker wie Premierminister Imran Khan sich nicht trauen, diesen Grenzen zu setzen.

Diese fatale innenpolitische Dynamik ist auch ein Nebeneffekt des Krieges in Afghanistan. Die Niederlage, die der Sowjetunion in Afghanistan während der Hochzeit des Kalten Kriegs zugefügt wurde, beruhte auf der gezielten Unterstützung islamistischer Gruppen in Afghanistan sowie der pakistanischen Militärdiktatur.

Während damals für die USA und ihre Verbündeten in Europa kaum absehbar war, welches Ausmaß die islamische Radikalisierung annehmen würde, hat das pakistanische Militär die Unterstützung des Westens gezielt genutzt, um seine Dominanz über Afghanistan auszubauen. Denn aus der Sicht der Armee ist es das wichtigste strategische Ziel, groß genug zu sein, um dem übermächtigen Nachbarn Indien Paroli bieten zu können. Dies geht nach Ansicht der Generäle nur, wenn in Kabul eine Islamabad-freundliche Regierung an der Macht ist.

Warum dies unbedingt die Taliban sein müssen, wäre eine Frage, die mit Armeechef Qamar Javed Bajwa diskutiert werden sollte, denn es ist inzwischen jedem klar, dass die USA den Krieg in Afghanistan nicht gewinnen können, solange die Taliban auf unbegrenzten Schutz und Hilfe aus Pakistan zählen können. Da die pakistanische Armee keineswegs an einer Regierungsübernahme der Islamisten im eigenen Land interessiert ist, müssen dem Land Angebote zum Umsteuern gemacht werden.

Die Zeit dafür ist günstig, denn der schleichende Rückzug der USA aus Afghanistan hat die regionalen Großmächte Russland und China dazu motiviert, in das „große Spiel“ um Afghanistan einzusteigen. Dabei ist China einer der engsten Verbündeten Islamabads, doch es hat sich bisher wenig um die innenpolitische Dynamik in Pakistan gekümmert. Doch der Zeitpunkt mag kommen, zu dem auch Peking erkennt, dass Merkantilismus kein Ersatz für Außenpolitik ist.

Die fatale innenpolitische Dynamik in Islamabad ist auch ein Nebeneffekt des Krieges in Afghanistan

Dabei gibt es momentan eindeutig zu viele, unkoordinierte Initiativen, die alle versuchen, mit den Taliban zu verhandeln. Kürzlich hat sogar Indien, das sich lange geweigert hatte, mit den Taliban zu reden, zwei pensionierte Diplomaten zu entsprechenden Gesprächen nach Moskau geschickt. Dabei misstraut jeder jedem. Die USA und ihre Verbündeten in Europa lecken ihre Wunden aus dem verlorenen Krieg, Kabul und Moskau trauen einander nicht über den Weg, und China bleibt der große Unbekannte, der sich über seine Rolle noch nicht verständigt hat.

Dabei sind sowohl China als auch Russland ernsthaft darüber besorgt, dass die Islamisten in ihrer Nachbarschaft ihren Einfluss ausbauen. Und zu Recht. Auch Europa muss darüber besorgt sein, nicht nur weil eine Machtübernahme der Taliban in Kabul erneut zu einem massiven Flüchtlingsstrom führen dürfte. Es ist auch zu erwarten, dass Afghanistan in einem solchen Fall erneut zu einer Brutstätte für Islamisten aller Art werden dürfte.

Dabei wäre es ein Fehler, zu glauben, dass ausgerechnet eine Taliban-Regierung die beste Lösung für das Problem sein könnte. Es muss stattdessen alles getan werden, um eine regionale Friedenslösung zu erarbeiten, die China, Russland sowie Indien und Pakistan einbindet und die Taliban politisch isoliert. Das ist leichter gesagt als getan. Aber das Problem der Region ist die religiöse Radikalisierung. Dieser kann nicht durch eine weitere Talibanisierung Einhalt geboten werden.