Ausgehen und rumstehen von Jenni Zylka
: Nackte Frauen, singende Bäumchen und Limbo

Oh weh, oh weh und ach, hätte ich nur nicht den hübschen Defa-Märchenfilm „Das singende, klingende Bäumchen“ angeschaut! Das Bäumchen klingt nämlich noch immer, in meinem rechten Ohr, seit Tagen schon. Und das, obwohl ich keine hochmütige Prinzessin auf der Suche nach einem „Freier“ (so heißt es im Film) bin. Die Ärztin hebt warnend den Zeigefinger und empfiehlt Vitamine, die ich mir alle sofort kaufe: D,B,D,D,H,K,P. Genug schlafen soll ich zudem,und den Tinnitus „austricksen“: Wenn das Bäumchen klingt, schnell etwas anderes Schönes hören.

Am Freitag versuche ich es mit Holly Golightly, sie spielt im „Roadrunner’s Paradise“ in Mitte und ist musikalisch zwar eigentlich schon zu gemächlich für mich, aber enorm charmant. Holly hat ihren Ex, den ehemaligen Thee Headcoats-Schlagzeuger Bruce Brand dabei, dazu Kontrabass und Gitarre, sie singt und klingt und swingt, dass es eine Freude ist. Die Haare trägt sie immer noch hochgenudelt, und irgendwann versöhne ich mich mit ihrem Tempo – immerhin hieß einer ihrer Alben „Slowly but surely“, was will man also? Bei Tinnitus ist’s eh langsam besser. Vor mir swingt ein Headcoat-Fan mit echtem Deerstalker auf dem Kopf, überhaupt wimmelt es im Club von Menschen, die wiederzutreffen man sich freut, man wusste ja nicht mal, ob sie noch leben! Danach wird getanzt, und später, in 8 mm, noch ein Tanzfilm geguckt: Nackte Frauen twisten. Das singende, klingende Bäumchen habe ich über all dem neckischen Gewackel beim Zubettgehen ganz vergessen. Es meldet sich aber am Samstagmorgen wieder, und ich gehe es mit leiser Kunst an: Ruth Wolf-Rehfeldt in der Galerie ChertLüdde, eine Kunst-Tippse, wie es kaum eine großartigere gibt. Mit der Schreibmaschine malt sie Bilder, spiegelt Worte, baut Font-Silhouetten und kommentiert dabei den ehemaligen „Frauenberuf“ Sekretärin, an dem viele Klischees hängen: Indem sie Form und Inhalt neu mischt und definiert, haut sie dem „Fräulein Hedwig zum Diktat bitte“-Sexismus der 60er eine kraftvolle Ohrfeige. Am schönsten ist ein von ihr entworfener Stempel mit „NICHTS NEUES“ – wie oft man den benutzen könnte!

Samstagabend wird gekocht, Biohuhn für die einen, Gemüse für die anderen, ich haue 200 Knoblauchzehen rein, weil Knoblauch gut für den Kreislauf (und damit gegen den Tinnitus) ist und mich so schön an Murnaus „Nosferatu“-Version von 1922 erinnert, die gerade im Kino Babylon mit Original-Musik live begleitet wird. Dieser Max Schreck als Vampir Orlok! Meist steht er nur blutdürstig herum, mit ausgefahrenen Fingernägeln und Hasenzähnen, aber zwischendurch irrt er auch mit seinem Lieblingssarg in den Armen durch Wisborg, um eine gute Stelle für den Kasten zu finden. Was nicht ganz logisch ist – vorher hat er ohne Mühe (und mit dem vermutlich ersten Stopptrick der Filmgeschichte) ein paar weitere Särge wie von Zauberhand bewegt – aber lustig aussieht.

Nach dem Essen gehen wir in die Eckkneipe und diskutieren über „cultural appropiation“ und die Frage, ob man eine Silvesterparty mit dem Motto „Calypso“ ausrichten darf, wenn man noch nie auf den West-Indies war. Ich finde, man darf, jeder Mensch sollte mindestens einmal in seinem Leben eine Calypso-Party veranstalten, denn die Liebe zur Kultur kennt keine Hautfarbe, und ich möchte nicht immer nur Walzer- oder Schuhplattler- oder Marsch-Motti ausgeben müssen! Ich will Limbo! Natürlich ist klar, dass es darum geht, wer davon profitiert. Aber wenn ich Limbo tanze, profitieren eh garantiert nur echte TrinidaderInnen – nachdem sie sich über mich kaputtgelacht haben. Vermutlich ist Limbo sogar gut gegen Tinnitus. Ich werde ihn mir also einfach therapeutisch verordnen.