Tod einer Obdachlosen in Hamburg: Erfroren in der Fußgängerzone

Joanna Wojnicz wurde 43 Jahre alt. Ihr Wunsch war ein bürgerliches Leben, aber ein eigenes Zimmer gab es für sie nur in der Entgiftungsklinik.

Ein Obdachloser in einer Fußgängerzone

Sie ist die erste Kältetote des Jahres: Joanna Wojnicz mit ihrem Partner Foto: Dmitrij Leltschuk

HAMBURG taz | Joanna Wojnicz ist erfroren, mit 43 Jahren, in einer Fußgängerzone von Hamburg-Niendorf. Sie war obdachlos und sie hat das Leben auf der Straße gehasst, jeden einzelnen Tag. Dies ist eine Spurensuche, der Versuch, einen Weg nachzugehen, der zu einem Job führen sollte, einer Wohnung, einer Dusche und einem Bett, und stattdessen in der Nacht zum 28. Oktober auf einer Parkbank endete.

Joanna Wojnicz war obdachlos und sie hat das Leben auf der Straße gehasst, jeden einzelnen Tag. Dies ist eine Spurensuche, der Versuch, einen Weg nachzugehen, der zu einem Job führen sollte, einer Wohnung, einer Dusche und einem Bett, und stattdessen in jener Nacht auf einer Parkbank endete.

Wenn man glaubt, dass das Leben einer Straße ähnelt, mit gelegentlichen Abzweigungen, dann war der Moment, in dem Joanna Wojnicz auf Bettina Lindlar traf, eine solche Kreuzung. Lindlar hatte mitbekommen, wie die Frau sich auf der Straße mit ihrem Lebensgefährten Robert stritt. Sie hatte die beiden zu einem Tee zu sich nach Hause gebeten. Dem Tee folgten weitere Besuche. Schließlich bot Bettina Lindlar den beiden an, zu ihr und ihrer Familie ins Souterrain zu ziehen. „Ein Experiment“, sagt sie.

Auf einem Tisch in der Küche der Lindlars steht ein Foto von Joanna, davor brennt eine Kerze. Es ist kein typisches Bild, denn dort trägt sie streichholzkurzes Haar und ist ungeschminkt. Man hat es aufgenommen, kurz nachdem sie ihr Haar abschneiden musste, weil sie Läuse hatte. Joanna war sehr gepflegt – außer bei ihren Abstürzen. Sie trug das Haar kinnlang, brünett gefärbt, ihre Nägel waren lackiert und sie hatte immer eine Handtasche dabei. Joanna hatte füllige Wangen, darüber haben sie immer wieder gescherzt. „Deine schönen Bäckchen“, sagte Bettina und Joanna antwortete: „Früher waren sie viel dicker, wie mein Hintern.“ Sie haben viel gelacht.

Eine Frau, die sich auskannte

Es ist, als könnte man bei Joanna von zwei Frauen erzählen, von einer, die eine klare Vorstellung davon hatte, was sie möchte, die einen Anspruch an das Leben hatte, die sich auf dem Feld, das ihr zugänglich ist, organisierte. Joanna Wojnicz wusste, wo das Zahnmobil stand und wo das Arztmobil, sie kannte die Kleiderkammern in der Stadt, in denen die Mitarbeiter Anziehsachen für sie zurücklegten, weil sie wussten, dass es ihr alles andere als gleichgültig war, was sie trug. Sie kannte den Friseur, der Obdachlosen kostenlos die Haare schnitt und sie wusste, wo sie Robert und sich für das Winternotprogramm anmelden musste – und das drei Tage nach ihrem Tod wieder begonnen hat.

Das Leben auf der Straße ist Hochleistungssport. Nur dass es dabei nichts zu gewinnen gibt – außer dem bloßen Überleben

„Das Leben auf der Straße ist Hochleistungssport“, sagt Bettina Lindlar und Joanna Wojnicz hat ihn in Hamburg sieben Jahre lang betrieben. Nur dass es dabei nichts zu gewinnen gibt – außer dem bloßen Überleben.

Aber Joanna wollte mehr, sie wollte ein bürgerliches Leben, ein geordnetes. Vielleicht mit einem Mann, für den sie kocht, sie selbst als Hausfrau oder mit einer Stelle als Haushälterin. Im Haus der Lindlars fing sie an, die Dinge so aufzuräumen, wie sie es für richtig hielt, bis Bettina Lindlar ihr Einhalt gebot: Sie wollte ihre eigene Ordnung oder Nichtordnung behalten.

Es scheint, als habe Joanna Wojnicz den größtmöglichen Abstand zwischen sich und ihr Elternhaus bringen wollen und sei dabei noch tiefer gefallen als diese. Die Eltern waren alkoholkrank. Sie bekamen sieben Kinder. Der Vater verschwand irgendwann. Als Joanna 13 Jahre alt war, setzte die Mutter sie auf die Straße.

Joanna machte eine Ausbildung als Keramikerin. Einmal hat Bettina Lindlar chinesische Teller, die auf einer Mülltonne standen, mitgebracht. Joanna war voller Begeisterung über deren Schönheit und erklärte, wie kostbar sie seien. Man könnte diese Ausbildung als eine weitere Gabelung betrachten, als einen Schritt in die Richtung des sicheren Lebens, das Joanna Wojnic für sich haben wollte.

Joannas Leben in Hamburg

Joannas Spur in Polen verläuft sich danach, es gab einen Mann, der sie schlecht behandelte, und schließlich die Entscheidung, nach Deutschland zu gehen. In Hamburg meldete sie sich bei Hinz&Kunzt, einem Straßenmagazin, das von Obdachlosen verkauft wird. Stephan Karrenbauer, der dort Sozialarbeiter ist, erinnert sich an die Joanna von vor sechs Jahren: „Sie war voller Elan und Hoffnung, hier Fuß zu fassen.“ Sie wollte arbeiten. Das sagt auch Bettina Lindlar. Joanna sprach gut Deutsch, sie war fix im Kopf. Aber man findet keine Arbeit, wenn man zuverlässig alle zwei Wochen abstürzt.

Joanna stürzte komplett, sie trank so viel, dass sie Promillewerte erreichte, die selbst die Rettungssanitäter überraschten, die sie dann abholten. Das war das zweite Leben von Joanna Wojnicz, und es hat das andere gezeichnet und überlagert. „Es war Schmerzbetäubung“, sagt Bettina Lindlar und wenn man vom Ausmaß des Trinkens auf den Schmerz zurückschließt, muss er sehr groß gewesen sein. Es kam zu Szenen, die diejenigen, die Joanna wohl wollten, nicht aushalten konnten und die Joanna zum Opfer derjenigen machte, die ihr nicht wohl wollten. „Sie geriet dann außer sich“, sagt Bettina Lindlar. Einmal eskalierte der Streit mit einer anderen Obdachlosen, die ein Auge auf Robert geworfen hatte. Die Frau trat auf Joannas Gesicht ein, die am Boden lag. Jugendliche, die in der Gegend herumlungerten, sahen zu und applaudierten.

Als Bettina Lindlar Joanna und Robert bei sich aufnahm, hatte sie eine Bedingung gestellt: kein harter Alkohol im Haus. Die beiden zogen ins Souterrain, Joanna kochte Eintöpfe voller Fett mit Würsten und stopfte Robert damit: „Du bist ein Mann, du musst essen“, sagte sie. Sie war der Mittelpunkt der Grillparties im Garten den Lindlars, sie flirtete mit den Männern, sie erzählte von allem und wollte alles wissen. „Wir waren eine WG“, sagt Bettina Lindlar, auf Augenhöhe. Einmal brachte Joanna zwei Engel als Geschenk mit, kleine Plastikfiguren mit Flügeln, auf einer stand „Bettina“, auf der anderen „Stephan“, ihr Mann.

Die Trunksucht

Es klingt wie ein Hafen, von dem aus Joanna festen Boden unter die Füße hätte bekommen können. Ein Leben, in dem nachts nicht mehr Hunde auf sie pinkeln, während die Besitzer daneben stehen. Nach drei Wochen kam sie betrunken nach Hause, aus ihrer Tasche lugte eine Flasche. „Da ist nichts“, sagte sie, aber Bettina Lindlar gab nicht nach und schließlich zog Robert den Wodka aus der Tasche. Damit war das Experiment beendet, obwohl Joanna noch versuchte, die Schuld Robert zuzuschieben. Von diesem Tag an lebten Robert und Joanna wieder auf der Straße, der Kontakt – „die Freundschaft“, sagt Bettina Lindlar – blieb.

Es gibt klare Anteile und weniger klare in der Geschichte von Joanna Wojnicz. Sie ist straffällig geworden, sowohl in Polen als auch in Deutschland. In Deutschland sollen es kleinere Delikte gewesen sein, Schwarzfahren und Ladendiebstahl, aber das wiederholt. In Polen gab es ein Delikt „mit Gewalt“, sagt Bettina Lindlar, mehr weiß sie nicht darüber. Es bestand ein Haftbefehl, Joanna war einige Tage in Deutschland in Haft, abgeschoben wurde sie nicht.

Vermutlich hatte sie wegen dieses Haftbefehls Angst, die Lindlar „panisch“ nennt, nach Polen zurückzukehren. Dabei wäre das, so scheint es, der Dreh- und Angelpunkt für eine echte Wendung gewesen. „Gebettelt“ habe Joanna um eine Langzeittherapie, sagt Bettina Lindlar. Um etwas, das mehr gewesen wäre als die ungezählten Ausnüchterungen im Krankenhaus, die zu nichts führten. Lindlar hatte sogar eine Klinik gefunden, die Joanna einen Platz gegeben hätte. Doch für diesen Platz hätte sie die Bestätigung der polnischen Staatsbürgerschaft gebraucht, um sich damit wiederum in Deutschland krankenzuversichern. Diese Bestätigung aber, so hat man es Lindlar zumindest gesagt, bekäme Joanna nur in Polen. „Wir haben sie bekniet“, sagt Bettina Lindlar. Nicht einmal übernachten müsse sie dort, die Familie würde sie begleiten – umsonst, Joanna wollte auf keinen Fall dorthin.

Der Absturz

Was blieb danach? Ein Leben, in dem zehn Tage im Krankenhaus Luxus sind: mit Dusche und regelmäßigem Essen, mit einer Tür, die man schließen kann. Danach ist der Fall ins Leben auf der Straße um so tiefer. Joanna wird vergewaltigt. Sie schlägt sich. Sie ist inkontinent. Man lässt sie nicht in den Waschsalon, wo sie ihre Kleider reinigen will. Sie hat Arthrose, das Stehen beim Zeitungsverkauf vor dem Supermarkt strengt sie so sehr an, dass Robert ihre Schichten übernimmt. Sie verhüllt ihr Gesicht mit Tüchern.

„Sie war gezeichnet“, so erinnert sich Stephan Karrenbauer an sie. „Sie war sehr weit weg“, sagt der Kontaktbereichspolizist, der sie vom Vorplatz eines Kindergartens schickte, den sie verunreinigt haben soll. „Weit weg“ – das sagen alle, die sie erlebt haben. Aber wie weit weg? Als Bettina Lindlar sie das letzte Mal sah, kam Joanna Wojnicz gerade wieder aus einer Entgiftung. „Sie war top gestylt und sah aus, als käme sie aus einer Wellnesskur.“ Kurz danach stürzte sie wieder ab. „Joanna kaputt“, hat Robert gesagt, als er am Morgen des 28. Oktober vor der Haustür der Lindlars stand. Es ist, als wäre ihr Leben eine Aneinanderreihung von Fallen und Aufstehen gewesen und all ihre Kraft hätte sich im Aufstehen erschöpft.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version diese Textes stand, dass Entlausung Bedingung für die Aufnahme in das Winternotprogramm ist. Dies ist nicht der Fall.

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