Knochensplitter über zwei Etagen

Wimmelbilder des Horrors: „As if“, die feingliedrigen Zeichnungen Ralf Ziervogels, zeigt die Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg

Ralf ­Zier­vogel: „Disorder Prelude V“, 2017 Gouache und Tinte auf Papier, 140  cm x 279,5 cm Foto: Werner Hettler/Deichtor­hallen

Von Falk Schreiber

Alles an diesen Bildern schreit. Die aus den Höhlen quellenden Augäpfel, die weit aufgerissenen Münder, die gespreizten Vulven. Ralf Ziervogels Zeichnungen erschlagen einen mit Anleihen an gewaltpornografische Comic­ästhetik ebenso wie mit einer Detailgenauigkeit, die jede Fragmentierung des Körpers, jedes abgerissene Glied genau dokumentiert; nicht zuletzt erschlagen sie einen mit ihrer schieren Größe. Auf bis zu zehn Meter großen Papierbahnen zeichnet Ziervogel meist mit Tusche winzige realistische Figuren und schafft so Wimmelbilder voller Horror, die eine lange Betrachtung verlangen, damit man auch jede Kleinigkeit erfasst. Auch wenn man da eigentlich gar nicht alles erfassen möchte.

Ziervogel, geboren 1975 in Niedersachsen und seit den Nullerjahren in Berlin lebend, reüssiert weniger am Kunstmarkt (der mit dem Genre Zeichnung grundsätzlich gewisse Probleme hat) als institutionell – eine Erfolgsgeschichte, als deren vorläufiger Höhepunkt die bislang größte Einzelpräsentation des Künstlers unter dem Titel „As if“ in der Hamburger Sammlung Falckenberg gelten kann. Die Außenstelle des Zeitgenössische-Kunst-Konglomerats Deichtorhallen im Gebiet des von hochkulturellen Groß­events weitgehend verschonten Hamburg-Harburg bietet ausreichend Raum, um Ziervogels gleichzeitig riesige und sich im Klein-Klein verlierende Werke zur Geltung kommen zu lassen. Darüber hinaus kann man es sich in den zum Kunstort umgewidmeten Fabrikhallen auch leisten, einen ganzen Raum nur für die Serie „Every Adidas got its Story“ (2005 bis heute) freizuhalten: Zu sehen sind 34 einzeln gerahmte Postkartenzeichnungen plus je ein schwarzer Umschlag, die hier ebenso ihre beunruhigende Wirkung entfalten wie das monumentale „Immobilie“ (2004), ein riesiger Gewaltrausch über Leitern, Rolltreppen, Stege, der sich über zwei Etagen im Treppenhaus erstreckt.

Ein Problem stellt dar, dass die Sammlung Falckenberg im Kontext der Deichtorhallen traditionell für das Ultrakrasse, Transgressive zuständig ist. Mit „As if“ wird also eine Erwartung übererfüllt. Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass einige Werke der Ausstellung nicht für Jugendliche unter 18 Jahren geeignet seien – Erinnerung an die „Parental Advisory“-Sticker auf Tonträgern, die in den Neunzigern verschleierten, dass man es hier nicht nur mit expliziten Texten zu tun hatte, sondern auch mit teilweise interessanter Musik.

Auf die Ausstellung übertragen, verschleiert dieser Hinweis, dass Ziervogels Kunst mehr zu bieten hat, als nur Gewaltakt auf Gewaltakt zu türmen. Spannend ist etwa, wie streng der Künstler seine frei gezeichneten Arbeiten komponiert, entlang geometrischer Linien und Kreisbewegungen, die ihre Ursprünge in der Actionlastigkeit von Comics haben. Auch hier regiert das Heftige, die teils konkret erkennbaren Linien in Bildern wie „Head I“ (2016) entpuppen sich als in die Länge gezogene Eingeweide, aber sie verdeutlichen das Kompositionsprinzip dieser Kunst, das im Grunde viel interessanter ist als das ewige Gesplatter. „Flash“ (2008) besteht so nur noch aus einer langen Diagonale auf einer Papierbahn, die sich erst beim sehr genauen Blick als Reihung aus Haarbüscheln, Knochensplittern und Hautfetzen ausmachen lässt. Ein Goldener Schnitt, der ebenso bildästhetische Entscheidung ist wie ein tatsächlicher Schnitt im Sinne von Verletzung und Körperfragmentierung.

Ziervogels Kunst hat mehr zu bieten als nur Gewaltakt auf Gewaltakt

Ziervogels Bilder lassen sich auf solch einer quasi mathematischen Folie analysieren, nur verunmöglicht die Ausstellung diesen Zugang konsequent. Bald stellt sich eine Ermüdung ein, die nicht nur wegen des Sujets an eine Überdosis Pornografie erinnert: Der 15. Arschfick in Folge ist einfach nicht mehr besonders spannend, gerade wenn man ahnt, dass da ästhetisch mehr dahinterstecken könnte, als man sieht. Nur dass der Arschfick leider andere Bilder überstrahlt: Naturmotive wie das fein gearbeitete „fcknature“ (2011), in dem Ziervogels Tuschelinien zu durch die Luft jagenden Samen mutieren, die Blütenstände mehr beschießen als bestäuben. „Ael­ter“ (2007), wo ein Wurzelgewebe gewaltsam von der restlichen Pflanze gerissen ist und nun frei im Weißraum flattert. Die sanft verstörenden Körperprints, an denen der Künstler seit 2014 arbeitet. Oder die nur noch mit der Lupe erkennbaren Textfragmente auf großer, weißer Fläche, fiese Botschaften wie „Fuck you so much“ oder „Stick it up your ass“ („Whiplash“, 2015). Wenn eine Folterszene gleichberechtigt neben einer Blüte steht, erinnert man sich im Anschluss nicht mehr an die Blüte.

Im vierten Stock finden sich Werke aus dem Sammlungsbestand, die in Bezug zu Ziervogels Arbeit stehen – Bjarne Mel­gaards „Centaur Affe mit Stinkefinger“ (2000), ein Buttplug von Paul McCarthy (2007), ein blutiger Paul-Thek-Raum. Jungs­kunst, die ein martialisches wenn auch verletzliches Bild von Männlichkeit zeichnet, in das sich die feingliedrigen Gewaltfantasien von „As if“ perfekt einpassen. Zu perfekt womöglich.

Bis 27. Januar 2019, Sammlung Falckenberg, Deichtorhallen, Hamburg-Harburg, Katalog 42 Euro