„Wir müssen sagen: Du kriegst dein Geld ohnehin“

Hamburg-Mitte-Bezirksamtsleiter Falko Droßmann will den Kapitalismus in der Jugendhilfe abschaffen. Dafür sollen Träger unabhängig von den Fallzahlen ihr Geld bekommen

Völlig durchkapitalisiertes System: Träger arbeiten in der Jugendhilfe negativorientiert Foto: Axel Heimken/dpa

Interview Kaija Kutter

taz: Herr Droßmann, Sie wollen sich in Ihrer Zeit als Leiter des Bezirks Hamburg-Mitte die Jugendhilfe besonders anschauen. Was stimmt da nicht?

Falko Droßmann: Ich möchte sehen, ob wir das Geld, das wir in die Jugendhilfe geben, auch wirklich klug ausgeben. Wir geben allein im Bezirk Mitte für die gesetzlichen Leistungen, also die Hilfen der Erziehung, 67 Millionen Euro im Jahr aus. Tendenz steigend, denn die Prog­nosen sind negativ. Das steht in keinem Verhältnis zu dem, was wir in der Prävention tun.

Das heißt, Sie wollen die Jugendhilfe „entkapitalisieren“?

Ja. Derzeit ist das System so, dass irgendjemand bei einer Familie einen Bedarf für Beratung feststellt. Das kann die Schule sein, eine Kita, das Jugendamt selbst oder Nachbarn. Dann beauftragt das Amt relativ schnell Hilfen zur Erziehung, die werden nach Fachleistungsstunden abgerechnet, und die Familie bekommt Beratung. Diese Beratung könnte aus meiner Sicht fachlich besser sein.

Wieso?

Ich kann nur für Hamburg-Mitte sprechen. Wir haben hier allein 106 Einzelvereinbarungen mit Hilfe-Trägern. Ein Großteil kommt gar nicht aus Hamburg. Das heißt, ich berate ein Kind, ohne als Beratender etwas über diese Familie zu wissen. Die haben keinen Kontakt zur Schule, zu Sporttrainern oder zur Kita, weil sie nur einzelfallorientiert arbeiten. Hinzu kommt: Wie lange dauert diese Hilfe zur Erziehung? Bis der Bedarf nicht mehr besteht. Wer entscheidet das? Der Träger selbst!

Können Sie das belegen?

Ich habe Protokolle von Hilfeplangesprächen gelesen. Darin stand: Das Ziel des Gesprächs ist die Verstetigung der Hilfe-Leistung. Das ist der falsche Weg! Aber die Träger sind drauf angewiesen, diesen Weg zu beschreiten, denn sie bekommen ihr Geld nur negativorientiert, nur solange Bedarf besteht.

Die Träger verdienen, wenn es den Familien nicht gut geht?

Kurzgesagt ist das so. Wenn die Familie intakt ist, bekommen die Träger kein Geld mehr. Ich mache den Trägern keinen Vorwurf. Das System zwingt sie dazu, letztendlich so zu denken. Sie müssen ihr Personal bezahlen, ihre Büros, ihre Struktur. Je länger eine Hilfe dauert, desto eher ist der Träger abgesichert.

Das Dilemma ist schon länger Thema. Haben Sie eine Idee, dies zu lösen?

Ja. Wir haben dazu als Modellprojekt die gemeinsame Lösungsverantwortung vor Ort, kurz Lövo, initiiert. Es ist vor einem Jahr gestartet und noch in der Vorbereitungsphase. Wir sagen, es kann nicht sein, dass die rechte Hand nicht was die linke tut; wir müssen auf den Sozialraum achten. Die Schule, der Sportverein, die Familienangehörigen gehören einbezogen.

Das mit dem Kooperieren will man ja auch schon länger.

Es gab eine Zäsur in der Jugendhilfe vor 30 Jahren. Da ist man vom Sozialraumprinzip weggegangen zum Einzelfallprinzip. Ich möchte das Einzelfallprinzip nicht abschaffen, aber das Sozialraumprinzip wieder stärken. Ich habe mir in Österreich ein Modell in Graz angeschaut, das der Sozialwissenschaftler Wolfgang Hinte entwickelt hat. Dort bekommen die Träger ihr Geld, ohne dass sie die Familien schlechtschreiben müssen. Ich möchte dafür werben, ob wir nicht darüber sprechen können, den Kapitalismus rauszunehmen aus diesem System und zu sagen, die Träger oder die Trägerverbünde bekommen ihr Geld sowieso.

Aber ein Träger kann dagegen klagen, weil seine Berufsfreiheit eingeschränkt ist.

Das ist ja schon passiert. Deshalb hat sich das Lövo-Team hier im Haus natürlich juristische Unterstützung gesucht. Aber wir wollen alle Träger mitnehmen. Wir sagen nicht, wir ändern das System, sondern wir werben dafür, gemeinsam darüber zu sprechen, ob eine Systemänderung nicht sinnvoller sein könnte.

Wie funktioniert Lövo?

Noch ist offen, in welchem Gebiet wir das durchführen. Die Idee ist, das für einen Zeitraum auszuschreiben. Damit die jeweiligen Träger Planungssicherheit haben. Die 67 Millionen Euro pro Jahr sind nur für Hilfe zur Erziehung, da habe ich noch nicht einen Platz für die Unterbringung von Kindern finanziert. Dafür geben wir sieben Millionen Euro aus. Derzeit sind es 253 Kinder, die ich außerhalb von Hamburg untergebracht habe.

Sie haben in Hamburg-Mitte gar keine eigenen Heimplätze?

Ja. Weil ich in Hamburg keine eigenen Plätze habe, haben sich in Schleswig-Holstein mittlerweile ganze Dörfer darauf spezialisiert, Kinder unterzubringen. Das heißt, es ist ein vollkommen durchkapitalisiertes System. Mir geht es überhaupt nicht darum, da einen Euro rauszunehmen. Aber es ist ein Fehler, Kinder außerhalb Hamburgs unterzubringen, außerhalb ihres Sozialraums. Das ist fachlich falsch.

Warum ist das falsch?

Ein Kind aus einer Familie zu nehmen ist, eine staatliche Fürsorgemaßnahme und zugleich einer der strengsten Grundrechtseingriffe, die wir machen können. Es muss doch immer das Ziel sein, das Kind wieder in die Familie zu integrieren, das Kind und die Familie fit genug zu machen. Dafür brauche ich doch alle, die auf Kind und Familie einwirken. Dafür brauche ich die offene Kinder- und Jugendarbeit, die Schule, den Sportverein. Wie soll ich denn das Verhältnis zur Familie halten und wieder herstellen, wenn das Kind 500 Kilometer weit weg ist? Nur leider habe ich in Hamburg-Mitte nicht einen stationären Platz für ein Kind.

Das heißt, ganz unabhängig davon, was fachlich sinnvoll ist, muss es woanders hin?

Genau. Die Träger sind nicht die Gegner, aber natürlich müssen die die Plätze finanzieren. In Graz bekommen sie das Geld unabhängig davon, auch wenn die Plätze nicht belegt sind. In Deutschland haben die Träger ein Interesse daran – was nachvollziehbar ist – die Plätze zu belegen.

In Graz ist das nicht so?

Wir müssen ein System schaffen, wo wir das einem Trägerverbund geben, der dann auch Unterbringungsplätze in Hamburg schafft. Er kann auch Investitionen vornehmen, da können wir helfen. Wo wir sagen: Du kriegst dein Geld ohnehin. Ohne in den Hilfeplangesprächen immer wieder zu schreiben, wie schlecht es der Familie geht. In Graz ist das gelungen, auch wenn ich dort nicht alles perfekt finde.

Foto: dpa

Falko Droßmann, 44, ist SPD-Mitglied, Berufssoldat, Historiker und seit Februar 2016 Bezirksamtsleiter in Hamburg-Mitte.

Sie sagen, die Probleme verschärfen sich eher noch?

Das können wir an Hand des Sozialmonitorings deutlich sehen. Dort in Hamburg-Horn, wo ich die meisten Einrichtungen habe, wird es schlechter. Nicht in Hamm, wo ich kaum welche habe. Da können die Einrichtungen nichts dafür.

Gibt es den Effekt, dass sich Hilfe-Karrieren vererben? Dass junge Menschen, die im Heim waren, sich nach Familie sehnen, selber früh Kinder bekommen, mit denen sie es schwer haben, weil sie Familienleben nicht gelernt haben.

Das ist so, das hat ganz viele negative Implikationen. Man muss nur aufpassen, dass man es nicht zu sehr verallgemeinert, deswegen bin ich da ein bisschen vorsichtig.

Gab es schon Reaktionen?

Wir erleben derzeit den Widerstand von Verbänden der Träger. Die sehen das eher kritisch. Und die erste Frage ist: Wie kommen wir an unser Geld? Also die einen klagen wegen Berufsfreiheit, die anderen wegen Geld. Wie wir die beste Arbeit vor Ort machen können, die Frage hat mir noch keiner gestellt.

Wieso gehen Sie davon aus, dass dies rechtlich möglich ist, ohne dass wieder geklagt wird?

Es gibt drei Gewalten im Staat, die Legislative, die Judikative und die Exekutive. Wir wollen das ja nicht vom Schreibtisch aus einführen. Wir versuchen, dafür zu werben, dass wir es probieren. Wenn alle sagen, das System ist so genau richtig, wie es ist, d’accord. Ich bin nur ein Bezirksamtsleiter, in einem Bezirk, der es allerdings verdient hat, dass man mal darüber spricht, ob das so richtig ist.

Was sagt die Hamburger Sozialbehörde zu ihren Plänen?

Die unterstützt uns. Sollte dieses Projekt weiter fortschreiten, gibt es sicher einen Moment, wo die Fachbehörde sich deutlicher einbringen wird und andere Bundesländer sich interessieren.