Die Ordnung entlarven

In der Amerika-Gedenkbibliothek ist derzeit der Themenraum „100 Jahre Revolution 1918/19“ eingerichtet. Zu sehen gibt es Fotos, alte Zeitungen und eine Bücherpyramide, die von Besuchern verändert werden kann

Die Schau macht deutlich, mit welcher Gewalt damals vorgegangen wurde: Aufnahme aus dem Marinehaus am Köllnischen Park 1919 Foto: Zentral- und Landesbibliothek

Von Robert Mießner

Ende März 1919 hielten die Abonnenten der Zeitschrift Die Pleite nicht die erwartete neue Ausgabe der laut Eigenbeschreibung „radikalen illustrierten Zweimonatsschrift“, sondern eine 15-seitige Broschüre in Händen. Ihre einzige Illustration findet sich jeweils auf Cover und Titelblatt: ein Mann im bürgerlichen Habitus, eine Grafik des dadaistischen Künstlers George Grosz. Die Frisur ist in Unordnung, über der linken Schläfe klafft eine blutende Wunde. Der Gezeichnete hat die Arme hinter dem Rücken verschränkt, sein Gesichtsausdruck ist ernst. Über ihm in einem Viertelkreis der Broschürentitel: „Schutzhaft“. Ein Wort, das 14 Jahre später mit der beginnenden Nazidiktatur zu schrecklicher Berühmtheit gelangen sollte; erfunden haben sie es nicht. „Erlebnisse vom 7. bis 20. März 1919 bei den Berliner Ordnungstruppen“ steht unter der Zeichnung. Wieland Herzfelde, Autor und 1916 Gründer des auf Avantgardekunst und kommunistische Literatur spezialisierten Malik-Verlags, schreibt in seiner Vorbemerkung: „Diese Broschüre erscheint statt Nr. 2 der Zweimonatsschrift ‚Die Pleite‘, deren Redaktion infolge meiner Schutzhaft nicht abgeschlossen werden konnte.“ In einer Nachschrift fügt er an: „Zweck der Broschüre ist, das Wesen des Begriffes Ordnung zu entlarven.“

Welche Ordnung da durchgesetzt werden sollte, wo sie herkam und welche Folgen sie haben würde, lässt sich im Themenraum „100 Jahre Revolution 1918/1919“ der Zentral- und Landesbibliothek Berlin in Erfahrung bringen. Die Bibliothek, ein Haus an zwei Orten, stand selbst im Zentrum der Berliner Novemberrevolution: Im Marstall, der heutigen Berliner Stadtbibliothek, residierte die Volksmarinedivision und verteidigte von dort aus den Marstall und das Stadtschloss mit Maschinengewehren. In großer Nähe zu dem Ort, wo sich heute die Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) befindet – sie beherbergt den Themenraum –, war das damalige Gebäude der SPD-Parteizeitung Vorwärts und blieb im Januar 1919 heiß umkämpft.

Die Kuratoren des Raums haben sich für eine Präsentation entschieden, die den Besuchern gestattet, selbst aktiv zu werden: Sie können auf einem Computerbildschirm ein Faksimile von Herzfeldes Broschüre lesen, sich in den thematisch geordneten Bücherreihen bedienen oder historische Fotos betrachten, auf denen deutlich wird, mit welcher Gewalt damals vorgegangen wurde. Einige der Fotos sind auch ausgestellt, eines gibt es sogar als Postkarte zum Mitnehmen. Das Erschreckende daran: Es zeigt die Verwüstung der Geschosse und Granaten in einem Zimmer, Einschüsse an den Wänden, Schutt und Splitter auf einem zerstörten Sofa, die zersplitterten Möbel. Einzig der Kronleuchter hängt noch; der Raum selbst ist menschenleer.

„Am Anfang war Gewalt“ heißt eines der Bücher, welches sich die Besucher ausleihen können. Geschrieben hat es der irische Historiker Mark Jones; Tilman Asmus Fischer hat es 2017 für die taz rezensiert und kam zu dem Schluss: „Die Gewalt der Jahre 1918 und 1919 war in erster Linie nicht eine bedauerliche Begleiterscheinung des demokratischen Umsturzes, sondern ein konstitutives Element der Weimarer Staatsgründung.“ Mehr noch, „dass sich eine ‚Normalisierung der Gewalt‘ im öffentlichen Diskurs bereits 1918/1919 – und nicht erst ab 1933 – vollzog.“

Jones’ Buch ist eines der drei ansprechendsten Bücher des Themenraums, die anderen beiden sind Dietmar Langes „Massenstreik und Schießbefehl“ und Ralf Hoffrogges „Richard Müller – Der Mann hinter der Novemberrevolution“.

Müller war einer der revolutionären Obleute, unabhängig von den offiziellen Gewerkschaften und der SPD, die 1914 mehrheitlich für die Kriegskredite gestimmt hatte. Er ging zur KPD und sollte einer ihrer Ketzer werden.

Plievier macht Plaisir

Schon 1918/19 vollzog sich eine Normalisierung der Gewalt

Ein anderer Abtrünniger war der Schriftsteller Theodor Plievier: ein Anarchist und Lebensreformer, der nach dem Zweiten Weltkrieg schnell aus der Sowjetischen Besatzungszone in die der Briten wechseln sollte. Sein Buch über die Novemberrevolution – Plievier hatte Müllers Erinnerungen studiert – stand zumindest Mitte dieses Monats an zentraler Stelle im Themenraum, in dem Bereich „Literarische Werke“ an der Spitze einer Bücherpyramide. Erschienen 1932 bei Wieland Herzfelde, im Malik-Verlag, trägt es den Titel: „Der Kaiser ging, die Generäle blieben. Ein deutscher Roman“.

Wie er dahin gekommen ist, lassen Johannes Fülberth und Steffen Möller, zwei der Kuratoren, offen. Möller: „Es könnte natürlich reiner Zufall sein. Da eine solch offene Aufstellung auch zulässt, dass Nutzer die Medien auch selbst verstellen, könnte dies durchaus auch bewusst durch einen Nutzer geschehen sein.“

Fülberth: „Der Themenraum ist ein lebender Organismus. Bücher kommen, Bücher werden ausgeliehen, Bücher kommen wieder. Vielleicht hat dieses Buch einer unserer Mitarbeiter so hingestellt, vielleicht war es auch ein Nutzer. Ich hätte mit einem solchen Statement keinerlei Probleme, da es die historische Wirklichkeit spiegelt. Ich würde vielmehr noch ergänzen: Nicht nur die Generäle blieben, auch die kaisertreuen Richter, Staatsanwälte, Lehrer und Industriellen blieben.“

„100 Jahre Revolution 1918/1919“: ZLB, Amerika-Gedenkbibliothek, Blücherplatz 19, bis 10. Januar 2019