Ausgehen und rumstehenVon Robert Mießner
: Warten gilt zu Recht als Zeitverschwendung

Das Warten hat einen schlechten Leumund, gilt als Zeitverschwendung. Menschen warten auf Menschen und Maschinen. Einer Statistik zufolge verbringen wir 374 Tage unseres Lebens, bis sich eine Tür oder ein Link öffnet, der Bankomat Geld ausspuckt oder die Straßenbahn kommt. Wer wie der Verfasser dieser Zeilen die letzten Tage dreimal in der Warteschleife eines Kundendienstes verbracht hat, braucht das so schnell nicht noch mal. Dabei gibt es in diesen unfreiwilligen Pausen einiges zu entdecken: Muster auf Tapeten und Tischplatten, in der Sparkasse die Überreste des Vorabends – oder aber an der Haltestelle Kastanienallee/Schwedter Straße den Deklassierten, der den ersten Schluck seines Biers nicht etwa hinunterstürzte, sondern einem Straßenbaum zum Trinken gab. Diesen Mann, ich habe ihn selbst gesehen, müssen wir uns merken.

Der Klassiker für Nachtschwärmer ist das Warten auf einen Konzertbeginn. Der Schwarm, der sich am Samstagabend in kleinen Grüppchen von der Berliner Innenstadt in Richtung Schöneweide bewegte, war einer, in dem man sich still erkannte; dieser Schwarm ging dunkel gekleidet, wenn auch nicht zwingend aus Trauer. An der Ecke Blockdammweg/Ehrlichstraße, erleuchtet von einer wie dort gerade erst gelandeten Tankstelle, fanden die Grüppchen sich zu einem losen Pilgerzug zusammen, der eine Viertelstunde durch Treptow-Köpenick ging. Vorbei an einem majestätisch ruhendem Industriedenkmal, einem zugesperrten Heizkraftwerk, vorbei an bröckelnden Backsteinmauern, in deren Lücken Witzbolde leergetrunkene Flaschen drapiert hatten. Der Weg führte durch ein Tor über einen ausgedehnten Hof, plötzlich taten sich Lichtkegel auf. Zur Rechten floss die Spree stadtauswärts. Am Wasser lernt man Geduld.

Legendäre Akustik

Das Ziel der Pilger war das Funkhaus Nalepastraße, von 1956 bis 1990 Sitz des Rundfunks der DDR, maßgeblich entworfen von dem DDR-Architekten, Grafiker, Designer und antifaschistischen Widerstandskämpfer Franz Ehrlich, Namensgeber der genannten Straße. Der Aufnahmesaal seines Hauses wird seit einiger Zeit als Konzertort genutzt, die Akustik ist nicht von ungefähr legendär. Dorthin hatte die britische Experimentalcombo Current 93 zur Präsentation ihres neuen Albums „The light is leaving us all“ geladen. Current 93, seit über drei Jahrzehnten aktiv, gehörten zu den sibyllinischsten Blüten des Industrialundergrounds der Achtzigerjahre; ihr Gründer, der Künstler David Tibet, sieht seine Band übrigens ungern in dieser Schublade verwahrt. Es hat sich einiges getan, Current 93 füllen mittlerweile große Säle, so zuletzt regelmäßig den der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Bevor man hören und sehen konnte, was es mit ihnen im Jahr 2018 auf sich hat, gab es einige Hürden zu nehmen: Schlangen an der Garderobe, Bier aus Minia­turflaschen, beides komplett bargeldlos über den QR-Code der Tickets abgewickelt. Wer seine Eintrittskarte verlor, der könnte anderen einen feuchtfröhlichen Abend beschert haben. Das Konzept scheint noch nicht ausgereift.

Das Konzert hingegen geriet bestrickend. Current 93 spielten von Dudelsack, Drehleier und Violine grundierte Elegien. Das Piano begab sich auf improvisiertes Terrain, hinzu kamen elektronische Gimmicks und eine Videoshow, in der sich die Idylle britischer Landschaften zusehends auflöste. Keine Spur von ungebrochener Neofolk-Romantik, mit der Current 93 von Anfang an wenig zu tun hatten. Eigentlich hätten sie noch die große Orgel an der Kopfseite des Saales anwerfen sollen. Ein nächstes Mal? Das Instrument muss saniert werden; auch so etwas braucht Zeit.