Kälteschutz heißt Überlebenshilfe

Rund 40 Aktivist*innen organisieren seit 1996 für Wohnungslose jeden Donnerstag ein Schlafquartier mit Nachtcafé im Mehringhof. Ihr Credo lautet: niedrigschwellige Begegnung auf Augenhöhe. Abgewiesen wird keiner, denn das Café ist durchgehend geöffnet

Spartanische Ausstattung: Die Betten sind in Wolldecken eingeschlagene Isomatten Foto: Torben Becker

Von Torben Becker

Menschen drängen sich im Treppenhaus im Mehringhof. Die einen stehen hier in Erwartung auf kulturellen Spaß, die anderen, weil es um ihr Leben geht. Erstere sind Besucher*innen mit Eintrittskarten für das Mehringhoftheater im Erdgeschoss. Weiter oben im Aufgang zum ersten Stock hoffen Obdach- oder Wohnungslose, der Kälte der Straße zu entfliehen. In familiärer Atmosphäre bietet die selbst organisierte Initiative Kälteschutz mit derzeit rund 40 Aktivist*innen ihnen seit 1996 immer donnerstags einen Schutzraum, damit sie sich hier stärken, austauschen und zur Ruhe kommen können. Das Credo: niedrigschwellige Begegnung auf Augenhöhe.

Zwischen 8.000 bis 11.000 Menschen sind in Berlin obdachlos, schätzungsweise 50.000 wohnungslos. Die Ursachen? „Fehlender Zugang zu bezahlbarem Wohnraum, Hartz-IV-Sanktionen sowie Stadt- und Land­armut sind zentrale Gründe“, meint Paul. Er ist schon seit sieben Jahren beim Kälteschutz aktiv und hat viele Schicksale der Straße kennen gelernt: „Es geht einfach darum, Menschen in Not zu unterstützen, denn Kälteschutz heißt letztendlich für viele Überlebenshilfe.“

Und die ist gefragt. Zum Schichtbeginn der Ehrenamtlichen werden ab 18 Uhr Nummern an die ersten Gäste verteilt. Damit wird die Reihenfolge für die spätere Gepäckaufnahme geregelt. Dann muss erst mal angepackt werden. Innerhalb von zwei Stunden werden der Versammlungsraum und der sogenannte Blaue Salon zum Schlafquartier und Nachtcafé umgebaut. An anderen Tagen stehen die Räume für politische Gruppen oder einer Sprachschule zur Verfügung. Heute wird im Versammlungsraum jeder Platz für die Betten genutzt. Betten, das sind in Wolldecken eingeschlagene Isomatten mit einem Bettbezug und einer Decke. Stühle dienen als provisorische Nachttische. „25 können wir davon anbieten und sechs sind in einem abgetrennten Bereich für Frauen reserviert“, erklärt ein Ehrenamtlicher, während er auf dem Boden kniet und die Decken bezieht.

Alle wissen allerdings auch, dass der Schlafsaal keine wirkliche Privatsphäre bietet. Um dem Leben auf der Straße den Druck zu nehmen, sind hier deshalb alle darum bemüht, einen offen familiären Raum zum Ankommen zu schaffen. Julia, die seit letzter Saison dabei ist, beschreibt es so: „Es geht uns darum zu sagen: Ihr seid hier die Gäste und könnt euch mal so richtig bedienen lassen. Hier könnt ihr euch erst mal entspannen. Hier ist ein sicherer Raum dafür.“

Das fängt damit an, dass die Gäste nach ihrer Ankunft Tee gereicht bekommen, immer Zeit für einen kurzen Plausch ist, sie im Zigarettenrauch im Flur sich mit anderen austauschen und sich stets mit den dringendsten Bedürfnissen an die Aktiven wenden können: „Meine Schuhe sind schon seit Tagen nicht mehr dicht“, schildert ein Gast seine Lage, während er von Paul schon zum Kleiderspendenschrank am Ende des Schlafsaals geführt wird. Ein passendes Paar ist schnell gefunden.

Der selbst organisierte Kälteschutz in den Mehringhöfen engagiert sich seit 1996, obdach- und wohnungslosen Menschen einen warmen Raum zur Erholung und zum Austausch zu bieten. Kern ihrer Arbeit ist das niedrigschwellige Begegnen auf Augenhöhe.

Oft werden Obdach- und Wohnungslose von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Sie führen ein Leben am Rande der Gesellschaft. Deshalb verstehen die Aktivist*innen vom Kälteschutz ihr ehrenamtliches Engagement auch als politisches Projekt, denn sie versuchen die Bedarfe von diesen Menschen über den Kälteschutz hinaus sichtbar zu machen. Dafür suchen die rund 40 Aktivist*innen jede Saison nach weiteren Freiwilligen. Falls Sie Interesse haben, neue spannende Menschen kennen zu lernen und zu unterstützen, schreiben Sie dem Kälteschutz unter kaelteschutz@riseup.net. So erhalten Sie alle Informationen zu den Schichten, dem Engagement und den anstehenden Infotreffen.

Wie der Kälteschutz aufgebaut ist, mit welchen Initiativen er zusammenarbeitet und welche weiteren Spendenmöglichkeiten es gibt, erfahren Sie auf www.kaelteschutz-mehringhof.de.

Während der Gepäckaufnahme können sich Gäste mit Hygieneartikeln eindecken, die seit der letzten Saison von dem Drogeriemarkt dm gespendet werden. Duschen gibt es zwar keine, doch reicht die sanitäre Einrichtung für die nötigste Körperpflege. Danach wird noch ein kurzer prüfender Blick in die Taschen geworfen, denn Alkohol, Drogen und Waffen müssen draußen bleiben. Dann machen es sich die Gäste am großen Esstisch im Blauen Salon bei Kerzenschein gemütlich. Im Hintergrund gurgelt die Kaffeemaschine und im Radio leiert das Abendprogramm.

Heute gibt es Spaghetti Bolognese. Die robuste wie bekannte Punk-Kneipe „Clash“ im Erdgeschoss des Nachbarhauses kocht jede Woche das Abendessen für den Kälteschutz. Auch das macht den Mehringhof als solidarisches Hausprojekt aus. Snacks für die Nacht und das Frühstück am nächsten Morgen sind allein durch Spenden finanziert. Weil die Ehrenamtlichen sich selbst um den Einkauf kümmern, können sie auch Wünsche berücksichtigen. Zum Nachtisch gibt es heute Schokopudding. Das ermöglichen auch die Theaterbesucher*innen aus dem Erdgeschoss, denn oft spenden sie für den Kälteschutz, wenn sie nach der Vorstellung von den Aktiven mit einer Büchse unten am Eingang angesprochen werden.

Beim Abendessen fühlt man sich schnell wie in einer großen Wohngemeinschaft. Das schätzt auch Theo. Die Woche verbringe er hauptsächlich im Freien. Der Kälteschutz sei einer der wenigen Einrichtungen für ihn, wo er sich wohl fühle. Bei anderen Einrichtungen gebe es restriktive Zugangsvoraussetzung, Sicherheitsdienste oder Menschen, die aggressiv auftreten.

Klar, Konflikte gibt es auch hier. „Es reicht oft eine Person, die die gesamte Situation sprengen kann“, meint einer der Aktiven. Aber man bemüht sich, diesen Schutzraum zu bewahren. Matze, der schon seit den 90ern obdachlos ist, zückt seinen Terminkalender. Nur wenige Spalten sind frei. Denn er engagiert sich in vielen Projekten, um das Leben auf der Straße nicht nur für sich zu erleichtern.

Ihr seid hier die Gäste, könnt entspannen und euch mal so richtig bedienen lassen

Matze ist sich bewusst, dass die zugespitzte Situation für Obdach- und Wohnungslose in den Nachtcafés mit ihrer spärlichen Anzahl von Schlafplätzen immer wieder zu Spannungen führt. Es bräuchte verständliche Hausordnungen in allen Sprachen, meint er – heute etwa wird am Tisch Deutsch, Arabisch und Polnisch gesprochen.

So murmelt der Abend dahin. Es wird gescherzt, über Politisches gesprochen, und Anekdoten werden zum Besten gegeben. Schon früh legen sich einige schlafen. Selbst wenn alle Betten belegt sind, und das ist seit den letzten Saisons oft der Fall, versuchen die Aktiven nur im Notfall Menschen in anderen Einrichtungen unterzubringen. Das Nachtcafé bleibt aber die ganze Nacht geöffnet: für Spiele, Gespräche oder zum Dösen.

Ab sieben Uhr, wenn die Frühschicht kommt, sitzen dann die Ersten schon beim Frühstück. Die letzten Gäste werden gegen acht Uhr geweckt. Im Blauen Salon warten geschmierte Brötchen, vorgedrehte Zigaretten und Kaffee auf sie. Nach dem morgendlichen Trödel wird das letzte Gepäck ausgegeben, ein schöne Woche gewünscht und Wiedersehen versprochen. Die Ehrenamtlichen bleiben noch und waschen die letzten Bettbezüge, spülen Geschirr und reinigen die Isomatten, Stühle und Räume.