Die sauren Früchte der Revolution

Die Haynstraße 1 im teueren Hamburg-Eppendorf ist der Alptraum der Immobilienmakler. Seit 1970 hat sich dort ein Wohnkollektiv festgesetzt, geschützt durch einen raffiniert ausgehandelten Mietvertrag. Neun Kündigungsprozesse haben die Bewohner schon durchgestanden, der zehnte läuft

Die bärtigen Gesichter der Männer sehen ernst aus und gespannt.

von Daniel Wiese

Die Revolution hat stattgefunden, doch wann genau ist schwer zu sagen. Vielleicht war es 1970, mit dem Einzug der ersten Wohngemeinschaft in die Haynstraße 1. Vielleicht auch erst 1975, mit dem Abschluss des legendären Mietvertrags. Sicher ist nur, dass sie stattgefunden hat. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar.

Hamburg, der Stadtteil Eppendorf. Hinter der U-Bahn-Station Eppendorfer Baum tragen die Damen cremefarbene Kostüme, die Stadthäuser legen Vorgärten zwischen sich und die Straße. Schmiedeeiserne Gitter, Jugendstilfassaden. Dann kommt die Haynstraße 1. Auf der Frontseite ist über die ganze Breite ein Spruchband gespannt: „Haynstraße lebt!“

Die Haynstraße 1 ist ein imposantes, zweiflügeliges Eckhaus mit vielen Erkern, und wenn das Spruchband nicht wäre, nichts deutete auf seine Geschichte hin. Es ist die Geschichte, die seine Bewohner erzählen. „Wir haben das Haus dem kapitalistischen Verwertungsprozess entzogen“, sagt Reinhard Barth, aufgeknöpftes Hemd, weiße Haare, und in der Stimme schwingt Stolz mit, ein kämpferischer Unterton. Reinhard Barth ist der Mann der ersten Stunde in der Haynstraße 1, und er ist das wandelnde Hausarchiv. Er hat über das Haus ein Buch geschrieben. Es heißt „Das Haus – Tagebuchblätter aus der Haynstraße.“

1970 ist Reinhard Barth in die Haynstraße eingezogen, da war er 27 und bezeichnete sich als „der letzte Rest der APO“. „Wir machten Fotos, von den Innenräumen, von Feten, die wir bei uns feierten, vom Garten, von der Terrasse, zeigten sie herum“, schreibt er in seinem Buch. Jetzt wühlt er wieder in einem Stapel von Fotos, aber diesmal sind es andere. Darauf zu sehen sind Leute in engen Pullovern, sie stehen an Infoständen, sie halten Transparente, und die bärtigen Gesichter der Männer sehen ernst aus und gespannt.

Die Hausbewohner in der Haynstraße haben gekämpft, gegen „Mietwucher und Bodenspekulation“, wie es damals hieß. Und sie haben gewonnen. 1975 wies das Hamburger Landgericht eine Räumungsklage ab. Der entnervte Eigentümer verkaufte unter Wert an eine Schweizer Aktiengesellschaft, und deren Anwalt erschien bei einer Hausversammlung. Der arme Mann sei „eingezwängt in eine aggressive Menschenmenge“ gesessen, berichtet Reinhard Barth in seinem Buch: „Das ‚Herrenzimmer‘ war leergeräumt worden, dreißig, vierzig Menschen drängten sich darin, Zigarettenqualm hing in der Luft.“ Anscheinend wollte der Anwalt selbst in das Haus einziehen, was ihm ein Hausbewohner afghanischer Herkunft mit den Worten austrieb: „Wenn du hier wohnen, dann dein Leben Hölle!“

Rüdiger Barth vermutet, dass der Firmenanwalt den Mietvertrag, den er unterschrieb, nicht gelesen hat. Der Vertrag ist abgeschlossen mit der „Mietergruppe Haynstraße“ und hat für den Eigentümer fast nur Nachteile. Die Mietergruppe bestimmt, wer in das Haus einzieht, eventuelle Mieterhöhungen sind an Erhöhungen bei Sozialwohnungen gekoppelt.

Der Vertrag ist bis heute gültig, und er macht die Haynstraße zu einem Experiment, dessen Ausgang sich abzeichnet. Noch immer gibt es die Selbstverwaltung, hausintern „Zentrale“ genannt, noch immer finden Vollversammlungen auf dem Dachboden statt. Die Geschichte der Haynstraße ist eine Geschichte der Hamburger Linken, auch wenn das AStA-Büro verschwunden ist und die K-Gruppen, die im Haus wohnten. „Die Leute, die es ernst meinten mit der Kapitalschulung, sind die ersten, die uns wieder verlassen haben, als es nur noch ums Haus ging“, sagt Barth, der auf der Terrasse vor seiner Erdgeschosswohnung sitzt. Es ist dieselbe Wohnung, in die er 1970 eingezogen war.

Barth ist geblieben, ganz unten im Seitenflügel, die offenen Flügeltüren geben den Blick frei auf alte Möbel. Das ganze Haus ist eine Altersschönheit, im Treppenhaus gibt es einen Vorkriegsfahrstuhl, der in einem Käfig nach oben ruckelt, die Kabine ist aus altem, dunklem Holz und hat zwei Klappsitze. Wenn der Fahrstuhl nach oben fährt, fährt er in den Himmel, auf eine bunte Glasdecke zu, auf der die Sternzeichen leuchten, und irgendwo da oben ist auch das Allerheiligste, der Raum, in dem sie ihre Vollversammlungen abhalten.

Ja, der Versammlungsraum, sagt Reinhard Barth, als er aus dem Fahrstuhl tritt. Er zögert ein bisschen, den Versammlungsraum zeigt er nicht so gern, denn es ist nicht mehr der alte, den sie noch selbst hergerichtet haben, mit großen Balken drin, alten Sofas und einem ollen Teppich. Der alte Raum ist nicht mehr, da war der Hausschwamm drin, und jetzt gibt es da eine Dachwohnung.

Der neue Versammlungsraum ist längst nicht so schön und längst nicht so groß. Vielleicht ist das ein Symbol: Wohnen statt Politik. Nein, sagt Reinhard Bart, so sei es auch wieder nicht. Im Mietvertrag stehe, dass die Hausbewohner sich politisch äußern dürfen. Als die NATO im Kosovokrieg Belgrad bombardierte, hängten sie ein Transparent raus, auf dem stand: „Nie wieder Krieg? Bombensicher.“ Beim ersten Golfkrieg allerdings gab es Diskussionen über die Parole „Kein Blut für Öl“: „Manche im Haus meinten, Saddam Hussein gehört eins aufs Dach“, sagt Reinhard Barth. Das Transparent wurde dann individuell rausgehängt, galt aber nicht als „Hausparole“.

Trotzdem hat sich das Leben in der Haynstraße 1 verändert. Paare haben sich zerstritten, Wohngemeinschaften aufgelöst, Kinder wurden geboren. Längst wurde das Haus in Eigentumswohnungen aufgeteilt, „hinter dem Rücken der Mietergemeinschaft“, sagt Reinhard Barth. Inzwischen ist er selbst Eigentümer, wie zwölf andere Mieter auch. Die Idee war, die Haynstraße 1 zu kaufen, es war dies ein Abschied von dem, was die Bewohner „den Mieterkampf“ nannten.

Doch der Abschied hat nicht funktioniert. „Der Prozess ist ins Stocken gekommen“, sagt Barth. 24 Eigentumswohnungen gibt es, bleiben elf „Fremdeigentümer“, wie sie es nennen in der Haynstraße 1. Die Fremdeigentümer wollen den Mietvertrag nicht, der ihnen immer die „Mietergruppe Haynstraße“ vor die Nase setzt, sie wollen ihre Wohnungen einzeln vermieten, zu „marktüblichen Preisen“. Neun Prozesse wurden schon geführt, aber vor Gericht haben die Hausbewohner immer gewonnen, bis jetzt. Der zehnte Prozess steht vor der Tür, ein Verhandlungstag steht noch nicht fest.

Möglich, dass die Geschichte auch anders hätte laufen können. 1975, bevor die Haynstraße 1 vom alten Eigentümer verkauft wurde, hatte der das Haus der Mietergemeinschaft angeboten. „Wollte er wirklich verkaufen? Ich kann es nicht glauben. Es wäre auch ein blöder Abschluss unserer Geschichte gewesen“, so steht es in dem Buch, das Barth 1986 geschrieben hat. 1986 konnte er sich nicht vorstellen, selbst Eigentümer zu werden. Er „dächte nicht daran, auf das Spekulantenkarussell aufzuspringen“, beschied er einem Herrn, der ihm die Wohnung zum Kauf anbot, in der Barth wohnte.

So ändern sich die Zeiten. Ein Spekulant ist Reinhard Barth trotzdem nicht geworden, genauso wenig wie die anderen Eigentümer aus der Haynstraße 1. Sie streiten weiter, für ihren Mietvertrag, gegen ihre eigenen Interessen als Eigentümer. Im Haus gibt es jetzt zwei Parteien. Die, die nur Mieter sind und von dem Mietvertrag profitieren. Und Leute wie Reinhard Barth, die als ökonomische Subjekte zweigeteilt sind. Es zeichnet sich da ein Riss ab. „Aber“, sagt Barth, „wir kriegen das hin.“

„Haynstraße lebt!“, Hausfest am Samstag, 27. August, Haynstraße 1, Hamburg-Eppendorf