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Unterzuckert, zerkratzt, um Atem ringend

An Bremer Grundschulen sollen medizinische Fachkräfte chronisch kranke Kinder und deren Eltern beraten – umso wichtiger, je länger der Schultag wird. In anderen Bundesländern sind solche Modellversuche teils schon in der Auswertungsphase

Krank in die Schule: Tabletten helfen da nicht immer (und Tropfen auch nicht) Foto: Patrick Pleul/dpa

Von Joachim Göres

15 bis 20 Prozent aller SchülerInnen haben Asthma, ebenso verbreitet ist Neurodermitis. Viel seltener sind Fälle, in denen Kinder mit einem angeborenen Herzfehler zur Welt kommen oder unter Diabetes leiden – dafür sind sie häufig auf Hilfe angewiesen. „14 Prozent der Mädchen und Jungen haben einen Bedarf an medizinischer Unterstützung in der Schule“, erklärt die Kinderärztin Bettina Langenbruch vom Gesundheitsamt des Landkreises Hildesheim auf einer Tagung der Landesvereinigung für Gesundheit in Hannover.

„Die Kinder sind immer länger in der Schule, deswegen wird bei chronisch kranken Kindern die Versorgung in der Schule immer wichtiger. Gleichzeitig wächst die Unsicherheit bei Lehrern, in Notsituationen etwas falsch zu machen“, sagt die Kinderkrankenschwester Kirsten Henning. Sie arbeitet als pädagogische Mitarbeiterin in einer Grundschule in Hannover und wird dort als medizinische Fachkraft zu Rate gezogen, etwa wenn ein Junge nicht merkt, dass er unterzuckert ist und sich immer weniger auf den Unterricht konzentrieren kann. Oder wenn ein Mädchen sich pausenlos kratzt. „Bei Neurodermitis ist zum Hautschutz eine Salbe wichtig. Doch viele Kinder haben nichts dabei, auch Asthma-Kinder vergessen oft ihr Spray“, weiß Henning. Dann bleibe oft nur die Möglichkeit, die Eltern oder einen Krankenwagen anzurufen.

Wichtig sei bei chronisch kranken Kindern, dass Eltern medizinisch relevante Informationen wie Arztbriefe an die Schule weitergeben. Doch häufig würden nicht mal Fragebögen der Schulen zu gesundheitlichen Problemen ausreichend ausgefüllt – teils aus Verständnisproblemen, teils aus fehlender Einsicht in die Notwendigkeit.

Lehrkräfte müssen alle drei Jahre ihren Erste-Hilfe-Kurs auffrischen. „Dort spielen chronische Krankheiten keine große Rolle. Ich biete spezielle Lehrerfortbildungen an, aber die kommen meist wegen fehlendem Interesse nicht zustande“, erklärt Henning. Bei Allergikern sei ein individueller Notfallplan eines Arztes für den Lehrer nötig, aus dem die genaue Dosierung der Medikamente hervorgeht. Für Asthma-SchülerInnen müsse klar sein, dass bei Pollenflug in Klassen mit betroffenen SchülerInnen die Fenster nicht geöffnet werden und Schüler *innen in den Pausen im Gebäude bleiben können.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen (www.bag-selbsthilfe.de) hat das Heft „Chronische Erkrankungen und Behinderungen im Schulalltag“ herausgegeben: Es beschreibt 58 chronische Erkrankungen und Behinderungen und gibt Lehrkräften Hinweise für den Umgang damit. Darunter befinden sich auch nicht so bekannte Erkrankungen wie etwa die Endometriose oder das Klinefelter-Syndrom.

In vielen Ländern selbstverständlich

Im Gegensatz zu Deutschland ist in vielen europäischen Ländern die medizinische Versorgung in der Schule durch eine feste Fachkraft selbstverständlich. In den Bundesländern Hessen und Brandenburg ist gerade ein 18-monatiger Modellversuch mit speziell fortgebildeten Krankenschwestern an 30 Schulen zu Ende gegangen. In Brandenburg versorgten 20 Schul­krankenschwestern in dieser Zeit rund 6.500 Kinder medizinisch, vor allem wegen gesundheitlicher Beschwerden, nach Unfällen und nach Raufereien.

Die erste Bilanz sieht so aus: Behinderte und chronisch kranke Kinder fühlten sich viel seltener durch ihre MitschülerInnen gehänselt, doppelt so viele SchülerInnen konnten trotz Erkrankung in der Schule bleiben. Rund drei Viertel der Eltern und Lehrer empfanden die Schulkrankenschwester als Entlastung.

Die Lüneburger Erziehungswissenschaftler Peter Paulus und Thomas Petzel haben das Modell, das verlängert werden soll, wissenschaftlich begleitet. Sie betonen den positiven psychologischen Effekt: „Kinder, die psychische Sorgen und Nöte haben, können sie bei der Schulkrankenschwester an- und aussprechen; psychosomatische Beschwerden, die im Kindes- und Jugendalter in vielfältiger Form vorkommen und häufig von Erwachsenen oder den Peers bagatellisiert werden, werden von ihr ernst genommen.“ Gleichzeitig kritisieren sie, dass die Schul­krankenschwestern in Brandenburg und Hessen zu wenig in die pädagogische Arbeit der Schule eingebunden werden.

Hier setzt das Bundesland Bremen an. Seit diesem Schuljahr arbeiten sieben „Fachkräfte für Prävention und Gesundheitsförderung“ an zwölf Grundschulen in Bremen und Bremerhaven „mit einem herausfordernden sozialen Umfeld“ – dort, wo viele Kinder mit Übergewicht, Bewegungsmangel und Stress zu tun haben.

Die Gesundheits- und Krankenpflegerinnen oder Kinderkrankenpflegerinnen, die ein Public-Health-Studium abgeschlossen haben, bieten in den Klassen unter anderem Projekte zu gesunder Ernährung, Hygiene oder Medienkonsum an. Zudem beraten sie Kinder und Eltern zu Gesundheitsthemen. „An unserer Schule haben wir an zwei Tagen eine Fachkraft, die zu festen Zeiten als Ansprechpartnerin zur Verfügung steht“, erzählt Gudrun Bleeker, Leiterin der Bremer Grundschule am Ellenerbrokweg. Da komme auch schon mal „ein dicker Junge“ und frage, was er tun muss, um abzunehmen. „Die Fachkraft ist auch eine Entlastung für Lehrkräfte, die sich bei ihr Rat holen, wenn ein Kind häufig im Unterricht fehlt.“

Andrea Bade, Kinderärztin beim Gesundheitsamt Bremen, betreut das dreijährige Modellprojekt. Sie beobachtet bei den Schuleingangsuntersuchungen eine Zunahme von Allergien, Asthma und Entwicklungsstörungen. Bade betont, dass die Fachkräfte nicht für die medizinische Versorgung der Kinder zuständig sind. Sie sollen chronisch kranke SchülerInnen und deren Eltern beraten, wo sie Hilfe finden können – und durch die Förderung von gesunder Ernährung und ausreichender Bewegung dazu beitragen, dass weniger chronische Krankheiten auftreten.

Wenn sie merken, dass ein Kind geschlagen wird, sollen sie Kontakt mit den Schulsozialarbeitern aufnehmen. Bades Bilanz nach drei Monaten: „Es zeigt sich, dass sich in den Schulen durch die Anwesenheit der Fachkräfte ein stärkeres Bewusstsein für Gesundheitsthemen wie gesundes Frühstück oder Entspannung entwickelt.“