Steinerne Zeitzeugen

Steine, die man sonst nicht sieht, lagen dieses Jahr auf dem Trockenen Foto: Foto:dapd

Von Martin Reichert

Da war doch was mit diesen Steinen im Rhein, „Hungersteine“ habe man sie genannt, so erinnerte sich die Mutter, Jahrgang 1940, in diesem überheißen Sommer an eine Erzählung ihrer eigenen Mutter: Es handele sich um Steine, die man nur bei Niedrigwasser zu sehen bekomme und die man wohl, der Legende und der verwaschenen Erinnerung nach, als Hungersteine bezeichne, weil ein niedriger Wasserstand auf Dürre und daher auf Hunger verweise.

Richtig ist: Diese mit Jahreszahlen gekennzeichneten Steine gibt es überall in deutschen Flüssen. Sie liegen nicht nur im Rhein, und manche ihrer Inschriften sind Hunderte von Jahren alt. Der Begriff „Hungerstein“ aber geht zurück auf das Jahr 1947. Er bezieht sich sowohl auf den „Hungerwinter 1946/47“ – einen extrem harten Nachkriegswinter, in dem sämtliche noch von den Nazis angelegten (Kriegs-)Lebensmittelvorräte aufgebraucht waren – als auch auf den dar­auf folgenden Rekordsommer mit besonders niedrigen Wasserständen.

Damals wurde gehungert, nicht nur in Deutschland, und die Mutter hat das sogar miterlebt. Sie wurde schließlich gerettet durch elterlichen Schwarzhandel und amerikanische Schulspeisung. Im vergangenen Sommer nun waren die Flusssteine, die an bisherige extreme Niedrigwasser erinnern, wieder am Rande des Rheins zu sehen: „Anno 1857“, 1959 und 1963 und natürlich auch die Inschrift „1947 Hungerjahr“ konnte man zum Beispiel in Rheindürkheim bei Worms entziffern.

Nun ist also das Dürrejahr 2018 hinzugekommen, vielerorts wurden neue Plaketten angebracht und Inschriften angefertigt. Und in Zukunft wird man die Steine wegen des Klimawandels wohl noch öfter zu sehen bekommen, als einem lieb sein kann.