Zwischen Resignation und Eskalation

BERTOLT BRECHT In einer Kooperation mit dem Krakauer Stary Teatr zeigt das Gorki Theater Brechts Fragment „Der Brotladen“ in der Inszenierung von Wojtek Klemm. Die Wirtschaftskrise von 1929 ist darin beängstigend aktuell

Die Figuren verheddern sich in den Fängen von Kapitalismus und epischem Theater

VON ESTHER SLEVOGT

Am Ende stehen sie ebenso kraftstrotzend wie leerlaufend da: proletarische Actionfiguren mit nackten Oberkörpern. Sie exerzieren eine dumpfe Fitnesschoreografie, die aussieht, als könnte sie jeden Augenblick in körperliche Aggression umschlagen. Tatsächlich jedoch geschieht nichts, hängen die fünf Kraftprotze wie Marionetten in ihrem Bewegungsprogramm fest, das keinen Fortschritt und erst recht keinen Ausbruch kennt.

Aberwitzige Posen

Zuvor haben wir gesehen, wie sie mit Baseballschlägern blindlings einen Brotladen zerkleinern, dessen Besitzer mit den Mächtigen gegen das hungernde Volk paktiert. Doch ihre Münder ließen sie sich bald mit Brotteig stopfen.

Wie sie überhaupt die gut 90 Minuten, die dieser Abend dauert, immer wieder ihren Kampf um Lohn und Brot hinter unterwürfiges Anbiedern für diese beiden kostbaren Güter zurückstellten – unwürdige Verrenkungen, für deren aberwitzige Posen Regisseur des Abends Wojtek Klemm eigens die israelische Choreografin Efrat Stempler engagiert hat.

Und dann ist da noch die alleinerziehende Witwe Qeck (Malgorzata Hajewska-Krzysztofik). Sie musste ihrem Mann zur Befriedigung seiner Bedürfnisse zur Verfügung stehen, weshalb sie von ihm nun fünf Kinder hat. Um diese zu ernähren, muss sie sich wieder prostituieren.

Am Ende ist sie tot, die jungen Arbeiter wüten, um in ihrer sinnlosen Choreografie leerzulaufen, aus der sie erst der Applaus befreit.

Bis dahin zappeln die Spieler hilflos an den Fäden von Kapitalismus und epischem Theater. Die kluge, temperamentvolle Inszenierung von Wojtek Klemm hat mit dem Einzelnen ebenso wenig Mitleid wie der Kapitalismus. Gnadenlos exerziert sie hier den Fall einer Witwe und ihrer fünf Kinder durch die Gitter des Systems in den Abgrund.

Bert Brecht hat das Fragment gebliebene Stück „Der Brotladen“ in den Wirren der Weltwirtschaftskrise 1929/30 geschrieben. Es gilt als Vorstudie zum anschließend entstandenen Stück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“.

1967 hatte das Regieduo Matthias Langhoff und Manfred Karge eine Spielfassung des Fragments für das BE erstellt. „Der Brotladen“ war die dritte gemeinsame Arbeit. Die vierte führte schließlich zum Bruch und dem Wechsel von Karge/Langhoff an Benno Bessons Volksbühne.

Auch Wojtek Klemm, 1972 in Warschau geboren und als Jugendlicher nach Deutschland gekommen, hat nach seinem Regiestudium an der Berliner Ernst-Busch-Schule zunächst als Regieassistent unter Frank Castorf an der Volksbühne gearbeitet. Seit einigen Jahren arbeitet Klemm als Regisseur verstärkt in Polen und ist dort in die erste Liga der Nachwuchsregisseure aufgerückt.

Ausstehende Hypotheken

Zu Recht, wie seine polnische Erstaufführung von Brechts „Der Brotladen“ beweist. Die Banken sind in der Krise und treiben Kredite ein, was wiederum Immobilienhaie dazu zwingt, ausstehende Hypotheken einzutreiben.

Im Fall des Bäckermeisters Meininger bedeutet das, dass er die säumige Mieterin Niobe Queck samt ihren fünf Kindern rauswirft und auch noch auf einem Haufen teures Holz sitzen lässt, den sie in seinem Auftrag gekauft hat. Gnadenlos lässt Brecht in hochstilisierter Sprache am dramaturgischen Schnürchen seine Kapitalismusparabel und schickt die erdachten Figuren als Objekte der Demonstration in den Orkus.

Vorher schaut noch die Heilsarmee vorbei und lügt der Witwe was vom himmlischen Brotladen vor. Auf dass sich am Ende das Publikum erhebe und zur Änderung der Verhältnisse schreite, wie es das epische Theater verlangt. Doch das Publikum applaudiert brav, weshalb das empathielose Spiel sein Ziel verfehlt und mit der gleichen Unmenschlichkeit das Individuum instrumentalisiert wie der Kapitalismus. Bei Klemm sehen wir Schauspieler, die heißkalte Porträts gebeutelter Individuen geben und weit davon entfernt sind, sich mit der Rolle des Exempels zufrieden zu geben, das Bertolt Brecht an ihnen statuieren wollte.

Slapstick, stilisierte Spielszenen, Choreografien und Musik ergeben ein höchst suggestives Bild, das konsequent zwischen Resignation und Eskalation balanciert, in Brechts Kapitalismus-Studie einen doppelten Boden einzieht und ihm höchst zeitgemäße Sounds (Musik Dominik Strycharski) verpasst.