berliner szenen
: Das sinddie Berliner Calvinisten

Kurz vor sechs in Tegel. Der letzte Zug ist ausgefallen, und die Bahn ist brechend voll. Ein Platz in einem Vierer ist trotzdem noch frei, natürlich der hintere. Ich lächle und frage die ältere Dame im Vordergrund, ob sie mich durchlässt; die zieht zuerst ihre aufgemalte Augenbraue nach oben, sagt dann: „Einen Moment, junger Mann!“

„Natürlich“, antworte ich, „lassen Sie sich von mir nicht hetzen!“ Sie zieht ihre Knie ein und fragt dann: „Kommen Sie da durch?“ – „Natürlich“, und sie wieder: „Ja, Sie sind ja dünn, das ist ja auch viel besser, als wenn man so fett ist, also diese Fetten!“ Sie schüttelt den Kopf. Kaum sitze ich, dreht sie sich zu mir und sagt: „Es ist viel besser, wenn die Leute freundlich sind! Das macht alles viel leichter.“ Natürlich, ich lächle.

Die Dame steigt Rehberge aus, zum Abschied grüßt sie, ich lächle.

Am Oranienburger Tor steigt eine junge Französin ein, das Telefon am Ohr. Sie ist erkältet, erzählt sie ihrem Gesprächspartner, und das liege am Kollegen, der wolle immer stoßlüften, das Wort sagt sie auf Deutsch. „C’est débile“, sagt sie, man öffne alle zwei Stunden fünf Minuten das Fenster, und dann habe man das Recht, zwei Stunden ohne schlechtes Gewissen zu atmen; dafür leide man dann aber auch ganz winterlich an Schnupfen und Kopfschmerzen. „Tu sais, ce sont des calvinistes ici“, sagt sie.

Am Mehringdamm steigen zwei Teenager ein. Er fragt sie, wie es zwischen ihr und Karim laufe, sie grinst: „Ich mag Karim, und er mag mich, das ist voll praktisch.“ Die Jugend, denke ich, so viel schlauer als ich damals. Oder heute, natürlich.

Am Ring steigen die beiden aus, wie die meisten. Am Bahnhof Uthmannstraße sind noch drei Leute in der Bahn. Einer schläft, als wäre nichts gewesen, vielleicht stimmt das auch, ich lächle.

Frédéric Valin