Im Bahnhof
nach Mitternacht

Heiner Müller auf Sächsisch vorlesen und verstehen: Am Mittwoch im DT zu seinem 90. Geburtstag

Von Robert Mießner

Die Garderobe hat heute bis 24.00 Uhr geöffnet“, das war einer der ersten Sätze, welche die Besucher des langen Abends zum 90. Geburtstag von DDR-Dramatiker Heiner Müller am Mittwochabend in den Kammerspielen des Deutschen Theaters zu hören bekamen. Es sollte einer der letzten im geschliffenen Hochdeutsch sein. „Wenn du Müller-Texte nicht verstehst, sprich sie erst einmal in einem leicht sächsischen Dialekt, dann wird es schon klar“, hat Müllers Mitarbeiterin Renate Ziemer mal in einem Interview erklärt, das der Radiojournalist Jürgen Kuttner an den Beginn der Veranstaltung setzte.

Heiner Müller, tatsächlich ein Sachse in Berlin, zuerst im Ostteil, dann, er durfte reisen, in beiden Hälften der Frontstadt, gilt als schwer zugänglich. Er ist es nicht. „Eigentlich müsste man alle meine Texte auf Sächsisch lesen“, hat er gesagt. Man kann. Und so wurde am DT tatsächlich das Experiment unternommen, Müller in dem Dialekt zu lesen, der in einer Umfrage von FriendScout24 den vorletzten Platz auf der Beliebtheitsskala einnimmt.

Eigentlich ein Sprachfehler

Aber, was ist das überhaupt? Richtiger Dialekt werde kaum noch gesprochen, meinte der schweizerdeutsche Sprachwissenschaftler Beat Siebenhaar in einem einführenden Gespräch mit Kuttner, eher ließe sich von dialektal-regio­nal eingefärbten Varianten des Hochdeutschen reden. Die sollten gepflegt werden, denn Siebenhaar weiter: „Wer Standardsprache spricht, hat eigentlich einen Sprachfehler.“

Was Müller an Idiomen hörte, als er als junger Mensch nach Berlin kam und seine ersten Geschichten nach Mitternacht in den Bahnhofsgaststätten der Mitropa sammelte – dort seien die irrsten Storys über den Tresen gegangen, und es gab keine Sperrstunde, erzählte er einmal –, lässt sich nur erahnen. Die Geschichten aber, sie sind speziell in seinen frühen Texten, und einer davon bildete den Rahmen des bewusst kargen Leseabends: „Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande“, Entstanden 1961 als Auftragsarbeit für das DT und nach der Premiere sofort abgesetzt. Der Regisseur B. K. Tragelehn durfte sich in der Produktion bewähren, Müller wurde für das Stück aus dem Schriftstellerverband geworfen und sollte Texte schreiben, die den Verleger KD Wolff sagen ließen, für ihn sei Heiner Müller „immer mehr aus Amerika als aus der DDR“ gekommen. Auch davon gab es im DT.

„Die Umsiedlerin“ aber, laut Müller „eine wirkliche Komödie“, umfasst die Jahre 1946 bis 1960, „Junkerland in Bauernhand“, die Bodenreform unmittelbar nach Kriegsende bis zur Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR. Klingt dröge, ist es nicht. Um den jungen Sozialismus geht es, darum, was ihn attraktiv machte. Wer einen Herren sucht, der möge in den Spiegel schauen oder in den Westen gehen, sagt Flint, Kommunist, Teilnehmer der Novemberrevolution und KZ-Häftling, an einer Stelle, am Mittwoch gelesen von Corinna Harfouch. Und ja, sie sächselte dabei. So werden diese Leute geredet haben.

Einer der Vorwürfe an „Die Umsiedlerin“ war, es fehle dem Stück an positiven Helden. Es gibt einen; es ist eine Heldin, die Titelfigur: Positiv ist egal, sie ist selbstbewusst: Niet, gegeben von Linda Pöppel, die sich entschließt, ihr Kind alleine großzuziehen. Der Vater ist der Antiheld des Stücks, Fondrak, gelesen von Markus Kunze: Ein Shakespeare’scher Narr und Trinker; seine Spitzen beleuchten die Risse, die sich längst im Sozialismus aufgetan haben: „Jeder nach seiner Fähigkeit, schreibt deine Zeitung. Und nach dem Bedürfnis. Du kennst mein Bedürfnis, du kennst meine Fähigkeit. Lügt deine Zeitung? Ein Bier oder ich zeig dich an, Flint, wegen Feindpropaganda.“ Eine der wirklich bösen Pointen des Stückes ist die, dass es der Anarchist Flint ist, der zu den Herren gehen wird.