Nach Nein zu Brexit-Deal: Anarchy in the UK

Das britische Parlament hat den Deal von Premier May abgelehnt. Das eröffnet neue Möglichkeiten, den Brexit-Komplex neu zu gestalten.

Demonstrantin in London

Umgeben von EU-Fahnen: Demonstrantin in London Foto: reuters

BERLIN taz | Theresa Mays Brexit-Deal ist tot, aber Theresa May selbst ist nicht totzukriegen. Unmittelbar nachdem das britische Unterhaus am Dienstagabend mit großer Mehrheit den von Großbritannien und der EU ausgehandelten Austrittsvertrag ablehnte, rief die konservative Premierministerin dazu auf, ihr die Vertrauensfrage zu stellen. Sie kam damit Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn zuvor. Dem blieb nur übrig, diesen Schritt zu bestätigen. Niemand glaubte danach noch, dass May am Mittwochabend das Misstrauensvotum verlieren könnte – eine Niederlage wäre der erste Schritt zu Neuwahlen gewesen, wobei diese erst kämen, wenn innerhalb eines Monats weder May noch Corbyn eine Mehrheit finden. Und tatsächlich: May hat das Misstrauensvotum überstanden.

Das Brexit-Votum war die schwerste parlamentarische Niederlage einer Regierung in der britischen Geschichte. 432 zu 202 Stimmen – das entsprach, je nach Sichtweise, den schlechtesten oder kühnsten Prognosen. Nur drei Labour-Abgeordnete stimmten für den Deal, 118 konservative Parlamentarier stimmten dagegen. Von manchen Politikern hieß es, sie waren hinterher so geschockt wie seit dem Brexit-Referendum von 2016 nicht mehr.

Aber Theresa May wirkt wie befreit: Befreit von ihrem 585-Seiten-Konvolut, das den Brexit auf unabsehbare Zeit unvorstellbar kompliziert gestaltet hätte. Seit November hatte sich die Premierministerin erfolglos um Zustimmung für das ungeliebte Vertragswerk bemüht. Jetzt muss sie das nicht mehr. Sie muss stattdessen auf die Suche nach etwas Neuem gehen, mit dem sie in Brüssel vorstellig werden kann. Und wenn das nicht klappt, oder sich in Brüssel dafür niemand interessiert, kann sie sagen, sie habe zumindest alles versucht.

Mays Gegner haben ihr unfreiwillig Brücken gebaut. Vergangene Woche erzwangen Brexit-Gegner in den eigenen Reihen, dass Theresa May nach einem Scheitern ihres Deals nicht mehr 21 Tage Zeit hat, um eine Erklärung über das weitere Vorgehen abzugeben, sondern drei Sitzungstage; über ihre Erklärung stimmt das Parlament dann ab. Von irgendwann im Februar schrumpfte die Frist damit auf den 21. Januar – viel zu wenig Zeit, um etwas Neues zu erarbeiten. Und genau in dieser kurzen Frist eint die Vertrauensfrage die tief zerstrittenen Tories wieder hinter ihrer Chefin, die dadurch noch weniger Grund hat, von ihrer Linie abzuweichen.

Diverse Blaupausen

Die Premierministerin bot am Dienstagabend – den Sieg bei der Vertrauensfrage vorausgesetzt – Gespräche mit Vertretern aller Parteien an, um „Ideen, die wirklich eine Verhandlungsgrundlage darstellen und ausreichende Unterstützung im Parlament genießen“, zu sondieren. Solche Ideen sind Mangelware, erst recht vor dem 21. Januar. So gelten zunächst weiter ihre eigenen Vorgaben: Ein pünktlicher Austritt aus der EU, einschließlich Binnenmarkt und Zollunion; das Ende der Freizügigkeit; die Wiedererlangung der Kontrolle über die Außenhandelspolitik; und natürlich keine zweite Volksabstimmung, Verzögerung oder gar Absage des Brexit. Damit steht May den Brexit-Hardlinern in der eigenen Fraktion, die notfalls einen No Deal befürworten, näher als den Brexit-Gegnern auf den Oppositionsbänken, die notfalls den Brexit absagen wollen.

Es kursieren diverse Blaupausen, um nach dem Scheitern des Deals neue Vorschläge an die EU zu machen, ohne diese Vorgaben aufzugeben. Steve Baker, 2018 zurückgetretener Staatssekretär im Brexit-Ministerium, skizziert in seinem am Dienstag veröffentlichten Papier „A Better Deal and A Better Future“ ein vorläufiges Freihandelsabkommens mit der EU im Warenverkehr, mit besonderen Erleichterungen in Nordirland, um Kontrollen an der zukünftigen EU-Außengrenze auf der Insel Irland auszuschließen. Dies würde an die Stelle des ungeliebten „Backstop“ im bisherigen Brexit-Deal treten, der Großbritannien auf unbestimmte Zeit in einer nicht aufkündbaren Zollunion mit der EU belassen hätte. Sollte sich die EU nicht darauf einlassen, käme der No Deal.

Wenn nichts klappt, kann May sagen, sie habe zumindest alles versucht

Ex-Entwicklungshilfsministerin Priti Patel stellte sich am Mittwoch hinter den Versuch, „den Backstop mit einer besseren Alternative zu ersetzen“. Barnabas Reynolds, Autor von Büchern über die Auswirkung des Brexit auf die Finanzmärkte, legte Grundlagen einer möglichen Einigung mit der EU im Finanzsektor in Abwesenheit eines Gesamtabkommens vor.

Brexit-Gegner wollen derweil der Regierung das Heft ganz aus der Hand nehmen. Wenn Theresa May am Montag neu vor das Parlament tritt, wird auch ein von dem Tory-Rebellen Nick Boles verfasster neuer Änderungsantrag zum Brexit-Gesetz von 2018 auf dem Tisch liegen, der den Austritt aus der EU neuen Bedingungen unterwirft: nämlich in Abwesenheit eines ratifizierten Brexit-Deals die Erarbeitung eines neuen Brexit-Plans durch den Verbindungsausschuss des Unterhauses, den die Regierung dann dem Parlament zur Abstimmung vorlegen muss. Scheitert das, muss die Regierung bei der EU eine Verschiebung des Brexit um zwei Jahre beantragen – diese Klausel soll den Weg zu einer zweiten Volksabstimmung ebnen.

Da aber nur die Regierung Gesetzesvorlagen einbringen darf, deren Umsetzung Geld kostet, ist fraglich, ob das sogenannte Boles Amendment überhaupt zulässig ist. Selbst wenn es zulässig wäre und mit Labour-Hilfe durchkäme, würde seine Umsetzung und damit ein zweites Referendum davon abhängen, dass weder May noch die EU sich konstruktiv bewegen.

Das Grundproblem sowohl der Brexit-Hardliner als auch der Brexit-Gegner im Parlament ist: Ihr Spielraum, eigene Initiativen durchzusetzen, ist äußerst begrenzt. Sie sind darauf angewiesen, dass die politischen Akteure keine Lösung finden. Und solange sie nur Symbolpolitik betreiben können, kann Theresa May weiter als Hüterin eines goldenen Mittelweges agieren, an den außer ihr kaum noch jemand glaubt.

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