Die grausamste Hoffnung

Die Kinderoper „Brundibár“ erlebt zum Internationalen Holocaustgedenktag eine Premiere am Oldenburgischen Staatstheater. Traurige Berühmtheit erlangte der Zweiakter, weil er über 55 Mal im KZ Theresienstadt gespielt wurde. Regisseur Jens Kerbel will Stück und Aufführungsgeschichte in einen neuen Zusammenhang setzen

Poster für eine „Brundibár“-Aufführung 1944 im KZ Theresienstadt Foto: gemeinfrei

Von Jan-Paul Koopmann

Diese Oper ist so vergiftet, wie Kunst es nur sein kann. Nicht weil der Stoff so Grauenhaftes erzählen würde, ganz im Gegenteil: Die „Brundibár“ ist ein Kinderstück, das zwar einen traurigen Anfang hat, dann aber vom Überwinden der Widrigkeiten erzählt und Kindern vielleicht sogar Mut macht, gegen die Bösen und Gemeinen aufzubegehren.

Vergiftet ist die Oper, weil sie im KZ gespielt wurde, wo genau diese Hoffnung für die allermeisten vergeblich war. Teile einer Aufführung sind im Nazipropagandafilm „Theresienstadt“ zu sehen und behaupten hier die unfassbare Lüge: Die deportierten Juden führten im Osten ein einfaches, aber schönes Leben. Fast alle Darsteller*innen dieser Aufführung wurden wie auch Komponist Hans Krása nach Abschluss der Dreharbeiten aus Theresienstadt weiter nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet.

Das Oldenburgische Staatstheater zeigt die „Brundibár“ an diesem Wochenende unter der Regie von Jens Kerbel mit dem hauseigenen Jugendchor Klanghelden. Wie bei allen heutigen Inszenierungen der Oper wird es auch um ihre Aufführungsgeschichte gehen. Die Premiere liegt nicht zufällig auf dem Internationalen Holocaustgedenktag am Sonntag. Aber Kerbel will das eigentliche Stück nicht darauf reduzieren, wie er der taz vorab erzählt.

Seit die „Brundibár“ Ende der 1970er-Jahre wiederentdeckt und rekonstruiert wurde, hat sie diverse Aufführungen vor allem in Deutschland erlebt, oft in Schulen, wo die Proben pä­dagogisch und geschichtswissenschaftlich begleitet werden. Tatsächlich steht hier oft die Situation auf der Theresienstädter Bühne im Mittelpunkt und das Kernstück verblasst.

Nicht so in Oldenburg. Zu sehen und unter der musikalischen Leitung von Thomas Honickel auch zu hören sein wird eine zauber- und märchenhafte Kinderoper. Die Bühne gleicht einer „stilisierten Shoppingmall“, wie Kerbel sagt, mit „viel Licht, viel Bild und viel Glitzer“. Die jugendlichen Akteur*innen tragen auch keine Häftlingskleidung, wie vielen anderen Inszenierungen des Stücks, sondern Jeans. Und bunte Pullis, die zwar keine Alltagskleidung sind, aber doch mehr nach einem behutsamen Zirkuszitat oder der bunten Warenwelt aussehen als nach Elend und Internierung.

Entstanden ist die Oper nicht im KZ, sondern wurde von ihrem dort gefangenen Komponisten Krása lediglich wieder rekonstruiert. Seine Urfassung hatte Krása 1941 im jüdischen Kinderheim von Prag gezeigt. Das Libretto von Adolf Hoffmeister, der vor den deutschen Besatzern ins Exil geflohen war, erzählt eine eher zeitlose Geschichte: Die Geschwister Pepíček und Aninka brauchen Geld, um ihrer kranken Mutter die vom Arzt verordnete Milch zu kaufen.

Sie nehmen sich den Leierkastenmann Brundibár zum Vorbild, der sie aber vom Marktplatz jagt. Mit Hilfe anderer Kinder und übernatürlich kluger Tiere kehrt das Geschwisterpaar jedoch zurück, erweicht mit seinem Lieblingslied die Herzen des Publikums und feiert das verdiente Geld in einem Triumphzug der Helfenden, der den Wert von Freundschaft und Zusammenhalt erinnern soll.

Die Paradoxie des Stücks liegt eben darin: Einerseits Mut zu machen für den Kampf gegen einen mächtigen Unterdrücker, auf der anderen Seite aber auch als Propagandamittel der Nazis dienlich zu sein. Man bekommt eine Idee davon, wie tief dieser Widerspruch ging, wenn man den wenigen Überlebenden wie Greta Klingsberg zuhört. Sie hat die Oper in Theresienstadt viele Male gesungen und ist auch in dem Propagandafilm zu sehen. Auf zahlreichen Auftritten und in Dokumentarfilmen berichtet sich, wie sie diese Musik immer wieder als kurze Momente der Freiheit erfahren hat. Und genau das nutzt der NS-Film, wenn er sicher angespannt-konzentrierte, aber nicht unglückliche Kinder zeigt.

Ob die Nazis selbst nicht verstanden hatten, was sie da spielen ließen, ob es ihnen egal war – oder ob hier der gleiche menschenverachtende Zynismus wie in der Floskel „Arbeit macht frei“ zum Ausdruck kam? Es wird sich nicht mehr abschließend klären lassen. Wichtiger sind aber ohnehin die, die „Brundibár“ in Theresienstadt gespielt haben und ermordet wurden.

Es ist eine enorme Herausforderung, diese Oper heute zu spielen. Weil es eben um die Grenzen der Freiheit in der Kunst geht und um die Wahrheit

Jens Kerbel stellt der eigentlichen „Brundibár“ einen Prolog voran, mit Texten, die von den Jugendlichen in Workshops erarbeitet wurden. Sie haben das aus Libretto und Aufführungsgeschichte gleich doppelt drängende Thema von Ohnmacht und Isolation auf ihre eigene Lebenssituation übertragen. Nicht gleichgesetzt – eine absurde Vorstellung angesichts des millionenfachen Massenmordes an den europäischen Juden. Das ist auch Kerbel klar. Ihm geht es um die Konfrontation dieser für sich stehenden Lebenswelten. Davon verspricht er sich im besten Fall auch Einblicke in die Lebensbedingungen der Eingesperrten jenseits der monströsen Opferzahlen.

Neben Krásas Zweiakter und den Texten der Jugendlichen wird in Oldenburg noch der Liederzyklus „Theresienstädter Tagebuch“ zu hören sein. Komponiert hat das Wilfried Hiller, vor allem wegen seiner früheren Zusammenarbeit mit Michael Ende berühmt für seine Kinder- und Familienmusik. Grundlage dieses Begleitstücks waren hier Texte von Kindern aus Theresienstadt. Pointiert und in bewusster Begrenzung nutzt Hiller Teile des „Brundibár“-Instrumentariums, um eine klare Gegenposition zu definieren. Krásas Kernstück ist dagegen fröhlicher, eine fast naive Musik, die nach Jahrmarkt klingt und Trubel – und sicher nicht zur Reflexion des von den Nazis erzwungenen Kontextes einlädt.

Mit dieser Rahmung unterstreicht der Oldenburger Ansatz ein weiteres Mal das Spannungsverhältnis zwischen Historie, Gegenwart und Gedenken. Es ist, wenn man sie ernst nimmt, eine enorme Herausforderung, diese Oper heute zu spielen. Weil es eben um die Grenzen der Freiheit in der Kunst geht und um die Wahrheit. Kerbel betont, wie der Finalchor der über 55 Mal offen im KZ gespielten (und sogar abgefilmten) „Brundibár“ gleichzeitig zu einer heimlichen Hymne für die Gefangenen Theresienstadts wurde: „Ihr müsst auf Freundschaft bau’n, den Weg gemeinsam geh’n“, heißt es im Stück.

Vielleicht liegt in dieser subversiven Aneignung ein Pfad durch das ausgesprochen schwere Gelände. Vielleicht findet die Oldenburger Besetzung ihn ja mit ihrer Premiere und setzt damit Akzente für die Erinnerungsarbeit mit Jugendlichen von heute. Es wäre ihnen jedenfalls zu wünschen – und wie es bislang aussieht, stehen die Chancen ausgesprochen gut.

Premiere: So, 27. 1., 16 Uhr, Oldenburg, Exerzierhalle. Weitere Termine: 2./3./9./10./17. 2.