Die Zelle

Seit fünfzig Jahren kämpft das autonome Zentrum in Reutlingen für eine buntere Kulturlandschaft. Sie holten die Toten Hosen in die Stadt und besetzten einen Kinosaal. Aberwas ändert sich, wenn ein Jugendzentrum alt wird?

„Würg!“ Demonstra­tion vor der Zelle in den Achtzigern Foto: Foto aus dem Buch: „Unsere Wünsche sind Erinnerungen an die Zukunft“, 20 Jahre Kulturschock Zelle, 1989

Von Leonie Ruhland

Fünfzehn junge Erwachsene platzen ins Reutlinger Rathaus. Sie haben ihre Gesichter schwarz angemalt und tragen einen Sarg die Treppe hinauf. Darin ist „der Dialog vergraben“, steht auf ihrem Banner. Trommelschläge und Trillerpfeifen begleiten den Zug, anwesende Lokalpolitiker blicken schockiert. Die jungen Leute protestieren dagegen, dass ihr Haus abgerissen werden soll. So kann man es in Zeitungsartikeln aus dem Mai 1981 nachlesen.

Der „Kulturschock Zelle e. V.“ ist einzigartig in einer konservativen Stadt wie Reutlingen. Mehrmals stand das autonome Zentrum kurz vor dem Aus, zweimal mussten die Mitglieder für eine neue Bleibe kämpfen. „Von braven Bürgern seit Anbeginn mißtrauisch beäugt und angefeindet, ist das einzige Reutlinger Jugendhaus in Selbstverwaltung auch der Stadtverwaltung seit Jahren schon ein Dorn im Auge“, schreibt eine Lokalzeitung im Jahr 1981. Dennoch kann das Zentrum heute auf 50 Jahre Geschichte ­zurückblicken.

Angefangen hat alles am 2. August 1968, als eine Gruppe von etwa zehn Leuten eine Galerie in der Innenstadt Reutlingens eröffnet, die mit avantgardistischer Kunst provoziert. Die Mittzwanziger sind gelangweilt vom verstaubten Reutlingen. Einer Stadt, in der gefühlt alle CDU wählen und deren Kultur aus Symphoniekonzerten und klassischem Theater besteht.

Noch heute wirkt das bunte Zelle-Haus wie ein Kanarienvogel in einer grauen Stadt. Es liegt inzwischen auf einer kleinen Halbinsel, eingerahmt von Bäumen und dem Fluss Echaz. Eine Welt mit eigenem Garten, Sofas und Feuerstelle. Immer noch versuchen sie damit, aus dem tristen Stadtbild auszubrechen. Aber es ist schwieriger geworden.

Jana Schönwetter ist eines von nur sieben Mitgliedern, die den Verein noch instand halten. Die 21-Jährige schlägt sich vor allem mit Behörden herum. „Drogenhöhle“ wird die Zelle in Zeitungsartikeln genannt, oder „Reich des Verbotenen“. Streitigkeiten um dort stattfindende Partys bestimmen den Alltag. „Wir mussten viel Energie in den Konflikt mit der Stadt stecken, anstatt etwas Cooles machen zu können“, sagt Schönwetter, die gerade ihr abgebrochenes Abitur nachholt und ihre freie Zeit mit Zelle-­Arbeit verbringt. Der Ruf des Vereins ist schlechter geworden.

Das war mal anders. Brigitte Stübner ist Gründungsmitglied. Sie erinnert sich noch gut an „diese wilde Phase“ in Reutlingen. „Uns war es hier zu eng. Wir wollten Kunst als Möglichkeit der Bewusstseinsveränderung schaffen“, sagt sie. Die inzwischen 72-Jährige studierte damals Psychologie, seit 40 Jahren lebt und arbeitet sie in Rom. Die Gruppe gründete damals einen Verein und sammelte 200 Mark pro Nase als Grundkapital. Damit veranstalteten sie Ausstellungen, Lesungen, Konzerte und Diskussionsrunden. „Das war reinste Anarchie. Wir waren schräge Vögel, frustrierte Intellektuelle und ein paar Künstler, die davon träumten, in Düsseldorf oder München zu wohnen“, erzählt Stübner.

Jeder war willkommen in der Zelle. Außer den Rechten. Der Verein stellte sich klar antifaschistisch und antirassistisch auf, wollte sich politisch aber nicht eingeengt sehen. „Links bis neutral“, hieß es oft. Lieber strapazierten die Mitglieder die verstaubten Einstellungen der Reutlinger Bürgerschaft. Sie schockierten, indem sie auf den Straßen Gartenerde als Haschisch verkauften oder für eine Rehabilitierung des Nebenhodens Unterschriften sammelten. Die Kunstwerke der Galerie zeigten nackte Brüste und Schreckensbilder aus dem Krieg. Die „Zellis“, wie sie sich noch immer nennen, holten Stücke aus der DDR und den Ostblock-Staaten, brachten Künstler aus Prag in den deutschen Süden.

Während sie die meisten Reutlinger damit herausforderten, fanden sich auch viele Unterstützer. Schriftsteller wie Rolf Schwendter oder Künstler wie Anselm Kiefer waren zu Gast. Reinhard Mey galt damals noch als aufmüpfig, den Vater von Boris Palmer fanden sie „unerträglich“, aber er passte rein, war ein „Rebell“ und „machte wenigstens den Mund auf“, sagt Brigitte Stübner. In späteren Jahren spielten die Toten Hosen, Splash, die Beatsteaks und Feine Sahne Fischfilet in den Zelle-Hallen. Und das Kulturdezernat begann, den Verein als kulturellen Raum anzuerkennen.

Gleichzeitig nahmen die Auseinandersetzungen mit der Stadt zu. Einmal diskutierte der Gemeinderat über den Vorwurf, ein Brandstifter habe vor seiner Tat acht Gramm Marihuana in der Zelle gekauft. Man machte den Verein dadurch mitverantwortlich, drohte mit einer Schließung. Später hieß es, der Verdacht sei nicht begründbar. Häufig kam es zu ähnlichen Vorfällen, beinahe jährlich stand der städtische Zuschuss auf der Kippe. „Für die Konservativen, in erster Linie die CDU und die Freien Wähler, war die Zelle ein Unding, das waren richtige Feinde“, erzählt Wolfgang Rätz, der 1989 zehn Jahre lang Jugendpfleger war, damals ein Posten des Kulturamts. Aber es gab auch Leute wie Albert Schuler, Mitglied der Freien Wähler. Als Erster Bürgermeister suchte er auch entgegen der parteiinternen Meinung einen Ausgleich zwischen den Fronten. „Ich sagte immer: Es kann nicht alles bleiben, wie es ist. Es gibt andere Meinungen, die man tolerieren muss“, sagt er heute.

Dennoch hört der Konflikt nie auf. Im April 1993 verschafften sich dreißig Menschen aus dem Zelle-Umfeld Zugang zu einem Kino am Reutlinger Hauptbahnhof. Als Handwerker getarnt, schraubten sie die Stuhlreihen ab. Vier Tage lang wollten sie zeigen, dass dieser Ort wie geschaffen für sie sei. Aus ihrem alten Domizil sollten sie laut Stadtverwaltung bald verschwinden. Ein Rockkonzert füllte den Laden bis zum letzten Winkel, bei einer Vollversammlung konnten alle über die Zukunft der Zelle mitreden, und die „Volxküche“ verteilte 150 Portionen Tortellini mit Soße. Die Polizei stand bereit, griff aber nicht ein. „Die Zelle-Leute sagten mir: Mach dir mal keinen Kopf, das wird alles wieder aufgeräumt“, erinnert sich Jugendpfleger Rätz, der zwei Tage nach dem Wochenende eine Veranstaltung in dem Kino zu organisieren hatte.

Tatsächlich verließen die Zellis das Kino am Sonntagabend. Jede einzelne Schraube drehten sie wieder ein. „Wir durften nicht die Chaoten sein. Wir wollten ja, dass die uns ernst nehmen“, sagt Ralf Schöttle, der Anfang der 1990er Jahre Mitglied wurde und nun von der Kinobesetzung erzählt. Nicht einmal die Tür war beschädigt, den Schlüssel hatte ihnen ein Freund aus dem Gemeinderat zugesteckt. Rätz war positiv überrascht: „Das war sauberer als zuvor.“ Das sagte er auch dem damaligen Kulturbürgermeister Christof Eichert. „Der war fuchsteufelswild. Das war eine völlig falsche Information.“ Man habe auf einen Grund zur Verurteilung gehofft. Eichert selbst sieht sich heute nicht in der Lage, nach so einer langen Zeit „noch etwas Substanzielles“ anzumerken, schreibt er per Mail.

Im Lauf der Jahre etablierte sich die Zelle. Verschiedene Kulturinitiativen nutzten die Räume für ihre Veranstaltungen. Und der Verein wurde zum anerkannten Träger außerschulischer Jugendbildung. „In der Zelle ist mein politisches Bewusstsein erwacht“, sagt Ralf Schöttle, der damals Sport und Germanistik studierte. Heute ist er 48 Jahre alt und Oberstufenlehrer. Wie viele andere sieht er die Zelle als ersten Ort der Emanzipation, als Schule. „Buchhaltung, Ordnung, gemeinsames Planen und Durchführen, Debatten und das Hinterfragen von Meinungen – vor allem auch der eigenen. Damit beschäftigt man sich im Teenageralter eigentlich noch nicht.“

Die Zelle braucht Partys, um die Kosten zu decken. Politiker befürchten einen rechtsfreien Raum

Bald nach der Kinobesetzung bietet die Stadt den Zellis einen neuen Ort an: die Bobrzyk-Insel, am äußeren Rande der Stadt. Das von den Zellis selbst geplante Haus besteht aus einer großen Halle, einer Galerie, dem Büro und einer Werkstatt. Die Mitglieder sind zufrieden. Aber sie machen sich hinsichtlich des scheinbaren Wohlwollens der Stadt nichts vor: „Hier sind wir unsichtbar für alle. Das war vermutlich der Gedanke hinter der Insel“, glaubt Schöttle.

Unsichtbar wird das autonome Zentrum nicht, und die Stadt ärgert sich weiter. Wie zum Beispiel an einem Samstagabend im Mai 2016. In der Zelle findet eine Goa-Party statt. Ein Mann um die 40 liegt reglos auf einem alten, verdreckten Sofa schräg gegenüber der Eingangstür. Eine Mitarbeiterin rennt zu ihm und überprüft, ob er noch atmet. Er lebt und Jana Schönwetter holt zwei Sanitäter, die bei Großveranstaltungen mittlerweile immer vor Ort sind. Die machen eine Herzmassage, der Krankenwagen wird gerufen, kurze Zeit später treffen auch Polizei und Ordnungsamt ein. „Die wollten die Party abbrechen, angeblich wegen gefährlicher Drogen“, erzählt Schönwetter. „Aber der Typ war ja nicht mal bei uns drin.“

Von dem Vorfall gibt es zwei Varianten. Die Polizei sagt, der 40-Jährige habe aufgrund eines Alkohol- und Drogenkonsums einen Herzstillstand erlitten. Die Ermittlungen seien wegen fehlender Kooperation der Zelle schwierig gewesen. Schönwetter erzählt, der Mann hatte einen Herzfehler, die Zellis haben ihm das Leben gerettet. Er sei noch mal vorbeigekommen und habe sich bedankt. „Es ist immer wieder witzig, dass vom Ordnungsamt erst mal Vorwürfe kommen“, sie rollt mit den Augen. „Wieso wertschätzen die denn nicht, dass sofort Hilfe vor Ort war?“

Die Zelle braucht die Partys, um die Kosten zu decken. Politiker befürchten dagegen einen rechtsfreien Raum. Die Polizei soll mehr Kontrolle bekommen. Die Zellis hingegen verstehen ihren Verein als Schutzraum. „Das Gesetz gilt für alle und die Befugnisse von denen, die es durchsetzen, sind nicht verhandelbar“, sagt Verwaltungsbürgermeister Robert Hahn. Aber sie seien auf einem guten Weg. „Die Zelle ist Bestandteil der Jugendkultur und es gibt niemand, der da etwas dran ändern will.“

Letztlich ist es eine Hassliebe zwischen der Zelle und der Stadt: Sie brauchen sich gegenseitig. Auch wenn das niemand zugeben will.