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Die Spurensicherer

34 Kliniken in Niedersachsen dokumentieren nach Gewalttaten gerichtsfeste Beweise – auch ohne Strafanzeige. Zu 95 Prozent sind die Betroffenen Frauen

Kamera und Winkellineal: In den 34 Kliniken des Netzwerks „ProBeweis“ in Niedersachsen werden Spuren von Gewalt dokumentiert Foto: Bernd Wüstneck/dpa

Von Joachim Göres

Knapp 140.000 Opfer partnerschaftlicher Gewalt gab es 2017 in Deutschland, mehr als 56.000 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung wurden registriert. Die meisten Fälle werden nicht bekannt, weil die geschlagenen, misshandelten oder vergewaltigten Opfer häufig vor einer Anzeige zurückschrecken – Experten gehen davon aus, dass nur in fünf Prozent der Fälle von sexueller Gewalt und in zehn Prozent von häuslicher Gewalt eine Anzeige erstattet wird. Sollten die Betroffenen es sich später anders überlegen, fehlen für eine Verurteilung vor Gericht oft die Beweise – zum Beispiel sind Spermaspuren höchstens drei Tage nach der Tat nachweisbar, einige Verletzungen heilen sehr schnell.

Wer den Gang zur Polizei scheut, kann sich auch ohne Anzeige in Niedersachsen seit 2012 an das Netzwerk „Pro-Beweis“ wenden. Zu ihm gehören mittlerweile 37 Untersuchungsstellen in 34 Kliniken zwischen Wilhelmshaven und Göttingen sowie Nordhorn und Wolfsburg, die nach einem standardisierten Verfahren in einer rund 90 Minuten dauernden Untersuchung alle Spuren von Gewalt gerichtsverwertbar sichern, dokumentieren und lagern.

Denn nicht selten gibt es Arztatteste, in denen Sätze auftauchen, wie: „Es gibt wohl auch Verletzungen am Unterleib“. Aber: „Solche Formulierungen reichen vor Gericht nicht aus“, sagt Anette Debertin, Professorin am Institut für Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). „Ärzten fehlt häufig die Erfahrung bei der Dokumentation und Spurensicherung, das gehört nicht zur Ausbildung.“ Ärztinnen und Ärzte ihrer Partnerkliniken hätten deswegen eine spezielle Fortbildung gemacht.

Debertin stellte vergangenes Wochenende auf dem MHH-Symposium „Sex, Art & Violence“ im Sprengel-Museum Hannover das Netzwerk ProBeweis vor. Das MHH-Institut koordiniert das Netzwerk, es führt zudem in Hannover und an seiner Außenstelle in Oldenburg viele der Untersuchungen durch. Die Ärztinnen und Ärzte der 34 Pro-Beweis-Krankenhäuser beraten die Betroffenen und unterliegen der Schweigepflicht. Auch Minderjährige können sich hier untersuchen lassen, ohne dass es ihre Eltern erfahren. „Wir können nicht garantieren, dass eine betroffene Frau immer von einer Frau untersucht wird, aber wir bemühen uns darum“, sagt die Rechtsmedizinierin Debertin.

Das MHH-Institut für Rechtsmedizin hat zusammen mit dem Landeskriminalamt Niedersachsen ein Spurensicherungsset entwickelt, das den beteiligten Kliniken kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Dazu gehören Kameras zur Dokumentation von Verletzungen, ein elf Seiten umfassender Dokumentationsbogen sowie Versandbehälter für den Kühltransport, mit denen Spuren der Gewalt für die Aufbewahrung ans Institut für Rechtsmedizin geschickt werden – zum Beispiel Kleidungsstücke, Fremdkörper oder Blut- und Urinproben, mit denen der Einsatz von ­K.-o.-Tropfen nachgewiesen werden kann.

Dokumentierte Fälle nehmen zu

Laut der MHH-Rechtsmedizinerin Sarah Stockhausen nehmen mit der steigenden Zahl der beteiligten Krankenhäuser auch die Fälle zu – anfangs war in vielen ländlichen Regionen das Angebot kaum bekannt und die Wege weit. Wurden 2012 genau 26 Personen untersucht, waren es im vergangenen Jahr bereits 219. Seit dem Beginn von Pro-Beweis sind insgesamt 861 Fälle registriert worden, davon waren 95 Prozent Frauen. Zu einem Viertel ging es um sexuelle Gewalt. 80 Prozent kamen in den ersten drei Tagen.

„Wir empfehlen, sich vor der Untersuchung nicht zu waschen, damit keine Spuren verloren gehen. Das kostet die meisten große Überwindung“, sagt Debertin. 30 Prozent berichten von Wiederholungstaten. Ganz selten entscheiden sich Betroffene dafür, dass die gelagerten Beweise später vernichtet werden sollen. In 8,6 Prozent der Fälle haben Opfer nachträglich Anzeige erstattet, im Schnitt vergingen von der Tat bis zur Anzeige rund 100 Tage.

Weniger genau sind die Angaben, wie erfolgreich diese Anzeigen waren. „Wir wissen von sechs Verurteilungen und sehr vielen Einstellungen der Verfahren. Die Gründe der Gerichte für die Einstellungen kennen wir nicht, außerdem bekommen wir auch nicht über alle Verurteilungen Informationen“, sagt Debertin.

Anzeigen trotz Schweigepflicht

Oberstaatsanwältin Petra Herzog, Abteilungsleiterin Häusliche Gewalt bei der Staatsanwaltschaft Hildesheim, hatte vor längerer Zeit bei einer Fachtagung darauf hingewiesen, dass der hohe Prozentsatz eingestellter Verfahren darin begründet sei, dass Anzeigen zurückgezogen würden oder die Beweise nicht ausreichten. Nach ihren Angaben werden nur 20 bis 30 Prozent der Anzeigen wegen häuslicher oder sexueller Gewalt zur Anklage gebracht. Herzog weist auch auf die rechtlichen Möglichkeiten von Ärztinnen und Ärzten hin, wenn Patienten von ihnen Opfer von Gewalt geworden sind: „In Notfällen wie bei Gefahr für das Leben oder der Gefahr von Wiederholungstaten ist es trotz der Schweigepflicht möglich, eine Strafanzeige zu stellen.“

In der Vergangenheit hatten Krankenhäuser in Niedersachsen es häufiger abgelehnt, Spuren von Gewalttaten zu sichern und dies mit der niedrigen Notfallpauschale in Höhe von 24 Euro begründet. Pro-Beweis-Kliniken bekommen laut Debertin pro Fall rund 50 Euro. Pro-Beweis wird aus Mitteln des niedersächsischen Sozialministeriums finanziert. Debertin: „Weitere Krankenhäuser wollen mitmachen. Bundesweit ist unser Modell einmalig.“

Weitere Infos für Betroffene, Fachkräfte sowie ÄrztInnen in zahlreichen Sprachen auf: www.probeweis.de.