„Versenkt euch! Lauscht! Seht!“

Dokudrama, Familiengeschichte, Aufklärungskino: Heute beginnen die 69. Internationalen Filmfestspiele Berlin. Wie immer ist das Angebot von Filmen aus Deutschland und aller Welt kaum zu überblicken. Unsere Filmexpert*innen geben einige Empfehlungen

„Brecht“ Foto: Nik Konietzny/WDR

„Brecht“ (Berlinale Special)

Es nervt, dass im deutschen Film und Fernsehen die immer gleichen Nasen alle Rollen spielen, aber die Idee, den jungen Bertolt Brecht von Tom Schilling verkörpern zu lassen, leuchtet trotzdem spontan ein. Wie kein anderer kann Schilling coole Nonchalance mit charmanter Dreistigkeit verbinden, und in etwa so habe ich mir jedenfalls den jungen Brecht immer vor­gestellt. Als alter Mann spielt ihn Burghart ­Klaußner, was weniger schmeichelhaft erscheint, aber nicht weniger gespannt macht auf „Brecht“, den neuen Dokudrama-Zweiteiler von Heinrich Breloer („Todesspiel“, „Die Manns – Ein ­Jahrhundertroman“, Buddenbrooks). Denn irgendwie scheint es an der Zeit, dass der Mythos um den „Jahr­­hundert-Literaten“, den die einen viel zu ­ehrfürchtig zitieren, während die ­anderen von ihm gar nichts mehr hören wollen, mal entlüftet und entstaubt wird.

„Brecht“, R.: Heinrich Breloer, Deutschland/Österreich 2018. Termine: 9. 2., 15 Uhr, Haus der Berliner Festspiele; 10. 2., 13.30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele; 15. 2., 10.30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele). Barbara Schweizerhof

„Heimat ist ein Raum aus Zeit“ Foto: Ma.ja.de

„Heimat ist ein Raum aus Zeit“ (Forum)

Dem ideologisch zerhackten Jahrhundert kommt der Dokumentarfilmer Thomas Heise („Eisenzeit“, „STAU“, „Städtebewohner“) mit Kapiteln bei. Hinter ihnen verbirgt sich die eigene Familiengeschichte. Angefangen bei den Großeltern, reicht sie bis in die Nachwendezeit. Was der Film nach seinen 228 Minuten hinterlässt, ist der Eindruck eines Grau, wie man es durchaus mit Vergangenem assoziiert, aber es ist auch ein anständiges Grau, ein loyales, ein distanziertes und immer wieder auch ein enttäuschtes. Es liest der Sohn die Briefe der Eltern und Verwandten; er betritt die Historie weniger wie einen Fundus, den man durchwühlt, sondern auf einem privaten Zeitstrahl, der sich zur bekannten Chronik verhält. Gegen Ende wird es dann prominenter: Neben Christa Wolf und Heiner Müller taucht auch Wolfgang Heise auf, der Vater von Thomas Heise, „der wahrscheinlich einzig richtige Philosoph in der ganzen DDR“, wie ihn Wolf Biermann nennt. „Heimat ist ein Raum aus Zeit“, R: Thomas Heise, Deutschland/Österreich 2019. Termine: 9. 2., 16 Uhr, Delphi Filmpalast; 12. 2., 19.30 Uhr, CinemaxX 4; 15. 2., 15 Uhr, Kino Arsenal 1; 17. 2., 17 Uhr, CinemaxX 6. Carolin Weidner

„Knives and Skin“ Foto: Newcity Chicago Film Project

„Knives and Skin“ (Generation 14plus)

In den Filmen der US-Filmemacherin Jennifer Reeder treffen verlässlich zwei Elemente aufeinander: Kostüme aus der Welt amerikanischer Kleinstädte, in denen der Glitzer des Glamours zum Klischee erstarrt ist, lang gepflegte ­Eigenheiten, die ein Leben mit den jeweiligen Lebenslügen und Verletzungen ermöglichen. In der Begegnung dieser Elemente geraten die Dinge in Bewegung. Nach vielen Kurzfilmen hat Jennifer Reeder endlich wieder einen Langfilm gedreht. Eine Gruppe Jugendlicher auf einer Highschool irgendwo im Mittleren Westen der USA: die Marching Band, die Cheerleaders, das Footballteam und das Maskottchen des Teams bilden die Koordinaten ihrer Welt. Dann verschwindet die junge Carolyn nach einem Date mit einem der Footballspieler, das mit einem körperlichen Übergriff endete, und macht eine Leerstelle sichtbar.

„Knives and Skin“, R.: Jennifer Reeder, USA 2019: Termine: 9. 2., 20 Uhr, HKW; 11. 2., 20. 15 Uhr, Cubix 8; 12. 2., 14 Uhr, HAU1; 13. 2., 11. 15 Uhr, Zoo Palast 1; 17. 2., 17 Uhr, CinemaxX 1. Fabian Tietke

„Einzeiteile der Liebe“ Foto: Markus Koob/dffb

„Die Einzelteile der Liebe“(Perspektive Deutsches Kino)

Streit, Begehren, Enttäuschung und Geselligkeit – in „Die Einzelteile der Liebe“ durchleben Sophie und Georg wortreich das Auf und Ab ihrer scheiternden Patchworkbeziehung. Wie auf einer Bühne inszeniert Miriam Bliese, geborene Berlinerin und Absolventin der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB), ihren Spielfilm im Eingangsbereich des modernistischen Pierre-Vago-Hauses im Hansaviertel. Vor dem klaren Hintergrund dieser Architekturikone aus den 1950er Jahren und im Wechsel der Jahreszeiten präsentiert der Film in Moment­aufnahmen eine Chronologie der Ereignisse und das komplexe Gefühlspanorama der Ex-Liebenden. Dabei kombiniert Bliese distanzierte Beobachtung, temporeiche Dialoge und humorvolle Gesangseinlagen zu einer nicht nur ästhetisch, sondern auch dramaturgisch anregenden Filmerzählung über die Kunst, sich zu trennen.

„Die Einzelteile der Liebe“, R.: Miriam Bliese, Deutschland 2019. Termine: 12. 2., 19 Uhr, CinemaxX 3; 13. 2., 10 Uhr, Colosseum 1; 13. 2., 17.30 Uhr, Blauer Stern; 13. 2., 20 Uhr, CinemaxX 1). Eva-Christina Meier

„Welt an Bord“ Foto: Promo

„Welt an Bord“ (Berlinale Shorts)

Eva Könnemann erkundet in fast allen ihren Filmen auf immer subtile Weise die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion. Ihr Vorgänger, der fast unmerklich doppelbödige Kurzfilm-Filmpreis-Gewinner „Das offenbare Geheimnis“, war das Porträt eines gänzlich unbedeutenden Orts – und endete an einer Schleuse. Hier, am Übergang von Wasser und Land, setzt „Welt an Bord“ nun anders und neu an: Erst vom Ufer aus, dann mit Blicken vom Kahn auf das Ufer, dann vom Kahn auf den Kahn erkundet Könnemann per Binnenschifffahrt deutsche Landschaften und deutsche Mentalitäten: Die Welt am Rhein, dokumentarisch, zunächst. Dann aber wendet der Film, der von der Position der Beobachterin nicht mehr absehen will, mit der Einführung einer fiktionalen Figur seinen Blick.

„Welt an Bord“, R.: Eva Könnemann, Deutschland 2019. Termine: 8. 2., 21.30 Uhr, CinemaxX 3; 11. 2., 16 Uhr, CinemaxX 5, 13. 2., 21.30 Uhr, CinemaxX 3; 15. 2., 17 Uhr, Colosseum 1. Ekkehard Knörer

„Malchik russkiy“ Foto: Lenfilm Studios

„Malchik russkiy“ (Forum)

Was macht der Krieg mit dem Menschen? Das Kino im Angesicht der ­Gewalt? Große Fragen, die en détail ­ausgeleuchtet werden. „A Russian Youth“ („Malchik russkiy“) im Forum verspricht dabei Bilder aus einer anderen Zeit: grobkörnig, ausgeblichen, Shutter-Effekte, zeitversetzt. Um das Wesentliche wahrzunehmen, braucht es hier schon ein Tasten und Hinhören, das sensorisch daran erinnert, worum es hier geht. Den Krieg nämlich, den die Deutschen vor hundert Jahren erstmals mit Giftgas führten, wodurch ein Jung­spund erblinden und sich dem ­Lauschen am Frühwarnsystem hin­geben wird… Wir mögen, gerade in den letzten Politjahren, vergessen haben, dass es im Reich des Großen Bären nicht nur Populismus, Machtgeilheit und Korruption gibt, sondern auch einen außerordentlichen Humanismus, nicht zuletzt als Auftrag (in) der Kunst. Regisseur Alexander Zolotukhin hat beim Meister dieses „Aufklärungskino à la russe“ gelernt: Alexander Sokurow. Versenkt euch! Lauscht! Seht!

„Malchik russkiy“, R.: Alexander Zolotukhin, Russische Föderation 2019. Termine: 10. 2., 16.30 Uhr, Delphi Filmpalast; 11. 2., 21.30 Uhr, CineStar 8; 13. 2., 20 Uhr, Cubix 9; 16. 2., 16.15 Uhr, Zoo Palast 2) Barbara Wurm