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Der Geschichte auf den Grund gehen

Unsere Städte sind archäologische Fundgruben. Torsten Dressler ist einer von denen, die historische Spuren freilegen, bevor sie verschwinden, weil zum Beispiel neu gebaut wird

Spannende Tätigkeit: Archäologe Torsten Dressler in einem Fluchttunnel aus Berliner Mauerzeiten Foto: Christoph Schindler

Von Lars Klaaßen

Das Brett, mit dem Torsten Dressler aus dem engen Schacht herausgekrochen kommt, ist knapp 40 Zentimeter lang, rund 15 Zentimeter breit und etwa daumendick. An einer Seite haften noch Spuren des Erdreichs, auf dem dieses Stück Holz knapp 50 Jahre metertief im Berliner Untergrund gelegen hat. Darüber befand sich von 1961 bis 1989 der sogenannte Todesstreifen, der Ost und West trennte. Wozu das Brett im Tunnel einst gedient hat, ist bislang unklar. Wieder über der Erde, wird das Fundstück fotografiert, seine Maße und sein Fundort dokumentiert. Mitten in Berlin erforscht der Archäologe einen Fluchttunnel, der Anfang der Siebziger Jahre unter der Bernauer Straße vom Westberliner Bezirk Wedding in den Ostberliner Bezirk Mitte gegraben worden ist. „Zeitzeugen haben erzählt, dass es diesen Tunnel gibt“, sagt Dressler. „Sie zeigten uns, wo in etwa wir ihn finden können.“

Da passte es gut, dass der Verein Berliner Unterwelten an diesem Ort seit einigen Jahren bereits eine Dependance hat. Im 19. Jahrhundert befand sich auf dem Grundstück eine Brauerei, die Keller sind zu Mauerzeiten mit dem Bauschutt der abgerissenen Grenzhäuser zugeschüttet worden, um Fluchten in den Westen zu verhindern. Wieder freigelegt, können Besucher hier in den alten, unterirdischen Gewölben eine Ausstellung besuchen, die über die Berliner Mauer und Fluchten aus der DDR informiert. Unter anderem gibt es hier das Modell eines Fluchttunnels zu sehen. Den echten Fluchttunnel von 1971 hat der Verein mit einem unterirdischen Gang erschlossen, der das seit Jahrzehnten verschollene Relikt kreuzt. An dieser Stelle kann man nach beiden Seiten in die enge Röhre hineinsehen und bekommt einen Eindruck davon, wie beklemmend es sein musste, dort durchzukriechen.

Im kommenden Jahr, wenn der neue Gang fertiggestellt ist, werden Besucher hier vorbeigeführt. Hinein dürfen sie aber nicht. Das bleibt Dietmar Arnold, Chef der Berliner Unterwelten e. V. und dem Archäologen Dressler vorbehalten, und das auch nur unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen. Er erfasst exakt den Zustand des Tunnels und birgt Objekte, die sich darin befinden – etwa das Brett. So bleiben die historischen Spuren für künftige Forschungen nachvollziehbar.

Direkt neben dem Haus, unter dem die alten Brauereigewölbe samt Fluchttunnel verborgen sind, erstreckt sich über 1,4 Kilometer die Gedenkstätte Berliner Mauer. Auf dem Areal des ehemaligen Grenzstreifens befindet sich eines der letzten Stücke der Berliner Mauer, das einen Eindruck vom Aufbau der Grenzanlagen zum Ende der Achtziger Jahre vermittelt. Unter anderem geben archäologische Fenster den Blick auf die Historie des Ortes frei.

Dressler hat hier im Auftrag der Stiftung Berliner Mauer unter anderem die Fundamente der Versöhnungskirche und eines Wohnhauses freigelegt. Beide sind komplett zerstört worden, um den Todesstreifen auszubauen. Fluchttunnel, wie den jüngst entdeckten, gab es in der direkten Umgebung einige. Bodenplatten auf dem Areal der Gedenkstätte markieren ihren Verlauf. Viele dieser unterirdischen Bauwerke sind im Laufe der Jahrzehnte eingestürzt oder an anderen Stellen in Berlin im Zuge von Bauarbeiten zerstört worden.

„Wenn wir verstehen wollen, wie Fluchttunnel gebaut wurden, was sich darin ereignet hat, müssen sie genau untersucht werden, bevor solche historischen Spuren endgültig verloren gehen“, betont Dressler. Die daraus geborgenen Fundstücke kommen je nach Fundort in Berlin oder Brandenburg in das Landesdenkmalamt Berlin beziehungsweise nach Wünsdorf, wo das Brandenburgische Landesamt für Denkmalpflege und das Archäologische Landesmuseum sie lagern.

Einige rücken beizeiten ins Rampenlicht. „Wir haben vor Jahren in einem Fluchttunnel in Glienicke einen Fensterrahmen gefunden, mit dem die Seitenwand abgestützt worden ist“, berichtet der Archäologe. „Als Teil einer Ausstellung über die Berliner Mauer und Fluchtversuche ist dieses Objekt bis nach New York und Luzern gekommen.“ Ob und wie historische Spuren im Boden erhalten werden, hängt davon ab, wie das Landesdenkmalamt ihre Bedeutung einschätzt. Doch dafür muss man sie erst einmal finden.

Wer in Berlin zwischen Friedrichswerder und Alexanderplatz baut, ist verpflichtet, Archäologen hinzuzuziehen, sobald es unter die Erde geht. Denn dieses Areal, wo sich im Mittelalter und der Frühneuzeit die Städte Cölln und Berlin befanden, ist Bodendenkmalgebiet mit bekannten archäologischen Fundstellen. Dort sind Spuren der Stadtgeschichte dicht gestreut. In der Regel befinden sich die historischen Spuren nicht tiefer als drei Meter unter dem Pflaster. Jenseits der alten Stadtgrenze, wo systematisch erst nach 1700 gebaut wurde, gibt es sogenannte Verdachtsflächen. Das Landesdenkmalamt arbeitet mit Kartenmaterial, in dem verzeichnet ist, wo mit historischen Funden gerechnet werden kann.

Viele Archäologen arbeiten in der Bodendenkmalpflege, die den Bundesländern untersteht. Neben unbefristeten Stellen in unterschiedlichen Fachbereichen bieten die Landesämter projektgebundene befristete Stellen an. Eine wissenschaftliche Karriere ist an Hochschulen wie an außeruniversitären Forschungseinrichtungen möglich. Dazu zählen etwa das Deutsche Archäologische Institut oder einige Akademien der Wissenschaften. Auch in Museen gibt es Tätigkeitsbereiche für Archäologen. Private Grabungsfirmen offerieren befristete wie unbefristete Stellen. Knapp die Hälfte der Archäologen kommt in einer nicht fachspezifischen Beschäftigung unter: etwa im Verlagswesen, im Journalismus oder in Marketing- oder Öffentlichkeitsabteilungen von Unternehmen. (lk)

Projekte wie der Bau der U-Bahnlinie 5, wo vor dem heutigen Spuren des mittelalterlichen Rathauses gefunden wurden, begleitet das Landesdenkmalamt mit eigenen Fachleuten. In anderen Fällen werden Archäologen wie Torsten Dressler beauftragt, die über eine entsprechende Zulassung verfügen. „Im Laufe der über letzten zwanzig Jahre, die ich als Archäologe arbeite, sind auch jüngere Bodenfunde, die etwa im Zusammenhang mit den DDR-Grenzanlagen stehen, gesellschaftlich stärker in den Fokus gerückt“, sagt der gebürtige Mecklenburger. Manchmal brauche es aber auch private Unterstützung, etwa um einen Bagger für die Suche finanzieren zu können. Zum Beispiel vor einigen Jahren an der nördlichen Grenze des Berliner Westens: „Wir hatten schon etwas Zeitdruck, aber zum Glück zeigte uns Lucie Aagaard, eine alte Dame, die damals beim Tunnelbau dabei war, wo wir in etwa graben sollten.“

Nach langer Praxiserfahrung mit der Thema Berliner Mauer und Fluchttunneln promoviert Dressler nun über dieses Thema. Sein Weg dorthin begann mit einem Studium der klassischen Archäologie: „Nach der Wende zog es mich zu den antiken Orten am Mittelmeer.“ Nach Gründung einer Familie seien längere Aufenthalte in der Ferne jedoch mit dem Privaten schwer vereinbar gewesen. Der Blick in den hiesigen Untergrund führte schließlich zur Berliner Mauer.

Geografisch und historisch ist Dressler darauf jedoch nicht festgelegt. Sein Archäologiebüro mit 20 Mitarbeitern gräbt auch schon mal in Bayern oder Mecklenburg. Aktuell steht Potsdam auf dem Programm. Beim Bau eines Hotels direkt am historischen Stadtkanal legt ein Team von Dresslers Büro in der Baugrube Spuren aus dem 18. Jahrhundert frei. „Besonders gefreut hat mich vor Jahren der sensationelle Fund eines rund 7.500 Stücke umfassenden mittelalterlichen Münzschatzes in Altlandsberg östlich von Berlin, der unter anderem Gold- und Silbermünzen aus Köln und Prag umfasste“, so der Archäologe.

Wie nah man menschlichem Schicksal unter dem Pflaster unserer Städte kommen kann, zeigte sich auch 2008, als am Alexanderplatz eine Tiefgarage gebaut wurde. Dressler und seine Mitarbeiter legten dort rund 1.000 Gräber frei. Sie lagen ursprünglich noch vor den Toren der Stadt. „Fachleute waren von der enormen Zahl der Bestatteten überrascht“, so Dressler. Dass der Friedhof am Alexanderplatz nur von 1708 bis 1802 lang genutzt wurde, verschafft zudem neue Einblicke in diese Epoche: Damals sind die Menschen im Durchschnitt sehr früh verstorben, mit etwa 35 bis 40 Jahren. „Anhand der Überreste ließ sich feststellen, dass eine enorm hohe Arbeitsbelastung, ungünstige Lebensumstände sowie Mangelernährung hauptsächlich dafür verantwortlich waren.“ Die Überreste der Toten wurden geborgen und im nahe gelegenen Ortsteil Friedrichshain erneut bestattet. Auf dem Friedhof erinnert nun eine Stele an sie.