Wo die Heimat steckt

In seinem zweiten Roman über seine Familie erzählt der Autor Maxim Leo die Geschichte dreier Frauen, die vor dem Faschismus aus Berlin flüchten mussten. Mit ihren Enkelkindern feiert er inzwischen Hochzeit in Brandenburg

Aus dem Familienalbum von Maxim Leo: Irmgard und Hans nach dem Heiratsantrag Foto: privat

VonAnja Maier

Grübeln auf dem Weg zum Treffen mit dem Autor: Wie heißt das Buch von Maxim Leo noch mal genau? „Wo wir sind“? „Wohin wir gegangen sind“? „Von wo wir kommen“? Alles falsch. Da liegt es ja auf dem Kaffeehaustisch im Berliner Historischen Museum, das Buch, und es heißt „Wo wir zu Hause sind“. Und schon dieser Titel macht einen Unterschied, wenn es um die Geschichte dieser weit verzweigten, aus Deutschland vertriebenen jüdischen Familie geht. Wo die Leos zu Hause sind, wo ihre Heimat ist – das bestimmen nämlich sie selbst. Die Zeiten, da andere meinten, über ihr Leben entscheiden zu können, diese Zeiten sind so was von vorbei.

Die Idee zu „Wo wir zu Hause sind – Die Geschichte meiner verschwundenen Familie“ ist dem Journalisten Maxim Leo bei einer Feier gekommen. Sein Bruder hatte geheiratet, erzählt er in schönstem Ostberlinerisch und bestellt Cappuccino und Käsekuchen. An diesem Septembertag, zu der Party in einem jener brandenburgischen Herrenhäuser, die ihr Bestehen vor allem bindungsfreudigen Großstädtern zu verdanken haben, waren sie alle angereist, die Leos. Die ganze Bagage. Aus Israel und England, aus Wien und Berlin. „Da kam eine Energie zusammen“, erinnert sich Maxim Leo. „Ich wusste, wir sind jetzt hier einen Abend zusammen, und dann verstreuen wir uns wieder. Und ich begriff: Der Moment für den Stoff ist gekommen.“

Den „Stoff“, die Geschichte seiner Familie, kannte er grob. Schon als Kind hatte ihm seine Mutter, die Historikerin Annette Leo, erzählt von all den Tanten und Onkeln, Cousinen und Großcousins. Immer mal wieder kamen welche zu Besuch nach Ostberlin; an Gegenbesuche war nicht zu denken, es waren die Siebziger- und Achtzigerjahre. Das Kind Maxim fragte also seine Mutter, warum die meisten Leos denn so weit weg wohnen. „Sie sagte, früher habe unsere ganze Familie in Berlin gelebt, aber dann seien die Nazis gekommen und hätten alle vertrieben, die jüdisch oder kommunistisch waren. Vom Kommunismus hatte ich schon gehört, schließlich lebten wir in der DDR. Aber was waren Juden?“

Maxim Leo umreißt hier anschaulich, was so viele Menschen umtreibt: die Frage nach den Identitäten, die es ja – schaut man genauer hin – nur im Plural gibt. Die Geschichten, über die jede Familie verfügt, die engen Geflechte, Anekdoten, Schweigepausen und tief verzweigten Schichten verankern den Menschen als Person in seiner Vergangenheit und machen ihn bereit für seine Zukunft. Irgendwann kommt er, „der Moment für den Stoff“. Auch andere aus der Leo-Familie spürten übrigens diesen Moment. Maxims englischer Cousin Andrew zum Beispiel fragt in dieser magischen brandenburgischen Nacht: „Warum mussten wir eigentlich hier weg? Wir hätten doch alle Berliner sein können.“ Deutschland, das ist in diesem 21. Jahrhundert für viele Menschen nicht mehr ihre Heimat, aber doch die Herkunft, der Ort, von dem aus ihre Vorfahren weg mussten, raus. Oft überstürzt, meist in Angst, immer unfreiwillig. Es ist Geschichte, die nicht vergeht und die erzählt werden muss.

Vor acht Jahren hat Maxim Leo schon einmal ein Buch über seine Familie geschrieben. „Haltet euer Herz bereit – eine ostdeutsche Familiengeschichte“ ist eine der besten Erzählungen über die Idee des Kommunismus im 20. Jahrhundert. Über die Hoffnung, die diese Philosophie einst verkörperte, über die Pervertierung der humanistischen Idee bis zu ihrem historischen Niedergang in den Neunzigerjahren. Hauptperson ist Leos Großvater Gerhard, der in der DDR ein prominenter Journalist war. Sein Enkel erzählt so mitreißend und gefühlvoll dieses Jahrhundertleben, dass man spürt: Dies war Stoff, der geschrieben werden musste. Vielleicht liegt der Unterschied zwischen „Haltet euer Herz bereit“ und „Wo wir zu Hause sind“ genau darin: das neue Buch wollte raus.

Es ist wie stets perfekt geschrieben, dramaturgisch klug aufgebaut und emotional packend, wo sein Autor dies für geboten hält. Ein Gewinn. Aber kein Hauptgewinn, so wie Leos vorhergehende Familiengeschichte.

Diesmal, im Jahr 2019, erzählt Maxim Leo die Geschichte von drei Frauen seiner Familie. Von der fröhlichen Irmgard, die mit ihrem Mann Hans nach Palästina ging, wo sie fortan Nina und Hanan heißen und den Staat Israel mit aufbauen. Von Hilde, der bildschönen Schauspielerin, die erst mit Mann und Kind, später nur noch mit ihrem Sohn Andre durch Europa flüchtet und irgendwo zwischen Berlin und London ihre Herzenswärme verliert. Und von Ilse, die im französischen Internierungslager Gurs zwischen Tod und Leid ihre Liebe findet und nach dem Krieg in Wien lebt. Die drei Frauen sind 22, 26 und 15 Jahre alt, als sie Deutschland verlassen müssen.

„Da kam eine Energie zusammen. Ich begriff: Der Moment für den Stoff ist gekommen“

Maxim Leo

Gerade jetzt, in Zeiten wie diesen, da Deutschland zum Fluchtpunkt geworden ist, ist „Wo wir zu Hause sind“ ein bewegendes Lehrstück über Lebenswege, die von der Politik, von Mut und Opportunismus begleitet werden. In Zeiten wie diesen, mitten in Berlin und gerade mal hundert Meter von jener Stelle entfernt, wo 1933 Bücher öffentlich verbrannt wurden, schnurrt Geschichte zur Möglichkeit der Wiederholung zusammen. Zu großer Traurigkeit und der Frage, wie all diese Menschen so viel Leid ertragen konnten – und warum ihre Nachfahren es dennoch fertigbringen, 85 Jahre später in ein brandenburgisches Landhaus zu reisen, um dort die Liebe zu feiern.

Auch Maxim Leo hat sich das gefragt. Könnte all dies, die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, die Demütigungen, der Schmerz, das Trauma – könnte das wieder passieren? Leo meint, nein, er findet es falsch, die Zeiten überhaupt miteinander zu vergleichen. „Die Rahmenbedingungen waren völlig andere“. Die Wirtschaft laufe heute auf Hochtouren, das politische System funktioniere, auch wenn der Reichtum leider ungleich verteilt sei. Leo verortet das Problem anderswo: „Die größten Verteidiger des Systems sind zugleich die größten Zweifler. Es wird gequengelt und sich beschwert, dabei haben wir heute keine Entschuldigung dafür, uns nicht ordentlich und tolerant zu verhalten, anderen zu helfen.“ Auch er selbst sei Teil dieses Problems. Er lebe in seiner sozialen Blase, in der sich eh alle einig seien. „Ich bin Nullkommanull irgendwo engagiert, lebe extrem selbstreferenziell und tue, was mir gut tut.“ Er stockt. „Ich kann’s nur feststellen“, sagt er wie zu sich selbst in die Dämmerung des sich leerenden Kaffeehauses hinein.

Draußen vor der Tür weht ein scharfer Ostwind. Maxim Leo setzt sich die Mütze auf, schlägt den Mantelkragen hoch und schließt sein Fahrrad auf. Im Herbst 1989, in den Wendewirren – er war 19 Jahre alt – ist er hier in Ostberlin verhaftet worden. Er hatte eine Scheißangst damals. „Aber zu Tode wäre man nicht gekommen“, sagt Leo. Und dass er daran denken musste, als er diese Geschichte seiner Familie aufgeschrieben hat. Dass viele überlebt haben, gleiche einem Wunder. „Aber Schreiben kann nur erzählen, nicht heilen“, sagt er. Und radelt davon.

Maxim Leo: „Wo wir zu Hause sind. Die Geschichte meiner verschwundenen Familie“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 368 Seiten, 22 Euro