Abbiegeassistenten für Lkw: Im toten Winkel

Obwohl Abbiegeassistenten das Leben von Radfahrern retten könnten, werden sie nicht verpflichtend in Lkws eingebaut. Warum?

Ein Mann legt Blumen an ein weißes Fahrrad

Ein weißes Rad gedenkt einer 37-Jährigen, die in Berlin von einem abbiegenden Lkw überfahren wurde Foto: Christian Mang

BERLIN taz | Jeden Morgen um sechs Uhr rückt Mathias Brinkmann mit seinem Laster aus. „Auf der Straße bin ich wie ein fahrender Panzer“, sagt der 53-Jährige. Der kräftige Mann in der blauen Arbeitshose fährt einen Hochdruckspülwagen der Berliner Wasserbetriebe. Hinter Brinkmanns Fahrer­kabine befindet sich ein riesiger Tank, der benötigt wird, um Wasser durch die Kanalisation zu pumpen und sie von Verstopfungen zu befreien. Ende vergangenen Jahres wurde Brinkmanns Laster technisch nachgerüstet: mit dem Abbiegeassistenten „Mobileye Shield+“. Dieses Gerät soll dafür sorgen, dass der Fahrer auf Personen im toten Winkel aufmerksam wird. Es könnte Leben ­retten.

Laut dem Statistischen Bundesamt sind deutschlandweit von Januar bis November vergangenen Jahres 418 Rad­fah­rer*innen im Straßenverkehr getötet worden, das waren 50 mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahrs. In Berlin stehen an vielen Stellen in der Stadt weiß bemalte Fahrräder. Diese „Geisterräder“ stellt der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) für alle getöteten Radfahrer auf.

Das neueste Geisterrad steht an der Kreuzung Karl-Marx-Allee/Otto-Braun-Straße, unweit des Alexanderplatzes. Jemand hat mit Edding darauf geschrieben: „Flieg davon, meine Schöne“. Hier starb am 20. Februar eine 37-jährige Frau. Ein Lkw-Fahrer war nach rechts abgebogen und hatte die Radfahrerin nicht gesehen.

Am Unfallort liegen Blumen, Kerzen, ein Herz aus Pappe. Alter und Todesdatum stehen auf einem Schild, von einem Foto daneben lächelt die Getötete. Ein Junge, etwa 13, bleibt stehen. Wer die Frau war, fragt er. So jung, wie traurig. Die meisten Passant*innen laufen an den Kerzen aber vorbei, schauen kaum hin. Es gibt viele dieser Fahrräder. Eine Kreuzung weiter steht das nächste.

Ständige Bedrohung

Für Radfahrer*innen sind Laster eine ständige Bedrohung. Geräte wie das an Brinkmanns Hochdruckspülwagen könnten diese Bedrohung deutlich reduzieren. „Lkw-Abbiegeassistenten können 60 Prozent der tödlichen Abbiegeunfälle mit Radfahrern verhindern“, sagt Stephanie Krone vom ADFC. Doch weniger als 5 Prozent der in Deutschland gemeldeten Lkws sind bisher mit den Geräten ausgestattet, schätzt der ADFC.

Brinkmanns Lastwagen hat an den hinteren Seiten nun Sensoren, die den toten Winkel überwachen. Vom Fahrersitz aus blickt Brinkmann auf einen kleinen Bildschirm neben der Beifahrertür. Erfasst der Sensor eine Person, leuchtet es hier auf: orange, wenn sich jemand in der Gefahrenzone befindet, rot, wenn er nur noch eine Handbreit vom Auto entfernt ist. Darauf muss der Fahrer rechtzeitig reagieren, von allein stoppt der Assistent den Wagen nicht.

„Das Gerät gibt einem etwas mehr Sicherheit“, sagt Brinkmann. Seinen Laster muss er häufig durch Wohngegenden lenken. „Oft fahre ich auch an Schulen vorbei, wo viele Kinder rumlaufen“, sagt er. „Da guckt und guckt man – und trotzdem kommt mal jemand aus der Seitenstraße.“

Die Berliner Wasserbetriebe rüsten bis zum Sommer 250 von 400 Lkws mit einem Abbiegeassistenten aus. Werden neue Lkws angeschafft, haben sie das Warngerät von Anfang an eingebaut.

Aber warum werden diese Geräte nicht gesetzlich vorgeschrieben? Warum nimmt man den Tod von Rad­fah­re­r*in­nen weiter in Kauf, als könne man da gar nichts tun?

Berlin ist die erste deutsche Großstadt, die nun prüfen lässt, ob sie Lkws und Busse ohne Abbiegeassistent die Einfahrt in die Innenstadt verbieten kann. Den Impuls für diesen Vorstoß bekam die parteilose Verkehrssenatorin Regine Günther durch ein Rechtsgutachten, das die grüne Bundestagsfraktion in Auftrag gegeben hat. Dem Gutachten zufolge können Kommunen verfügen, dass nur sichere Lkws in die Städte fahren dürfen. Sie könnten festlegen, dass nur Laster, die den Abbiegeassistenten haben, als sicher gelten.

Berlin ist die erste Großstadt, die nun prüfen lässt, ob sie Lkws und Bussen ohne Abbiegeassistent die Einfahrt in die Innenstadt komplett verbieten kann. Ein Rechtsgutachten des Bundestags hält das für durchaus möglich

Für die rot-rot-grüne Landesregierung wäre das eine Option. „Die juristische Prüfung läuft aktuell unter Hochdruck“, sagt eine Sprecherin der Verkehrssenatorin. Sollte das tatsächlich möglich sein, würde die Polizei kon­trol­lieren, ob Lkws mit dem System ausgerüstet sind.

Städte müssen auf solche Mittel zurückgreifen, weil es keine deutschlandweite Pflicht zur Benutzung von Abbiegeassistenten gibt. Zwar steht im Koali­tionsvertrag von Union und SPD: „Wir werden Fahrerassistenzsysteme wie nicht abschaltbare Notbremssysteme oder Abbiegeassistenten für Lkw und Busse verbindlich vorschreiben und eine Nachrüstpflicht für Lkw-Abstandswarnsysteme prüfen.“ Aber die Bundesregierung vertritt den Standpunkt, dass eine verpflichtende Einführung nur europaweit möglich sei. Denn nur so sind gleiche Regeln für in- und ausländische Spediteur*innen durchsetzbar. Würde die Pflicht nur für Unternehmen aus der Bundesrepublik gelten, könnten diese wegen Inlandsdiskriminierung dagegen klagen.

Auf EU-Ebene wird über die Einführung beraten. Laut Bundesverkehrsministerium sehen die Entwürfe für die Überarbeitung der entsprechenden Vorschriften vor, dass voraussichtlich ab 2022 für neue Fahrzeugtypen und ab 2024 für neue Fahrzeuge die Abbiegeassistenten vorgeschrieben werden. Ob es aber tatsächlich dazu kommt, ist derzeit noch offen.

Stefan Gelbhaar, Bundestagsabgeordneter der Grünen, dauert das alles zu lange. „Seit zehn Jahren sprechen wir über das Thema Abbiegeassistent“, sagt er. Lange haben Politik, Logistikbranche und Lkw-Hersteller*innen das Thema ignoriert. Das geht nicht mehr. „Jeder weiß, dass es Einparkhilfen für Pkws gibt, da kann man sich dem Thema Abbiegeassistenten nicht mehr so leicht entziehen“, sagt Gelbhaar.

Um Schwung in die Sache zu bringen, hat er das Rechtsgutachten angestoßen, laut dem Kommunen Laster und Busse ohne Tote-Winkel-Warner aussperren dürfen. Dieser Weg hätte einen großen Vorteil, sagt Gelbhaar. Denn viele Unternehmen müssten nicht ihre gesamten Fahrzeugflotten mit den Geräten ausstatten. Sie könnten gezielt die Laster ausrüsten, die auch in Städte fahren – und jene, die nur auf Autobahnen und in Industriegebieten unterwegs sind, vorerst so lassen. Denn die Ausrüstung ist auch eine Frage des Geldes. Laut Gelbhaar kosten die Geräte zwischen 800 und 3.000 Euro pro Fahrzeug.

Das richtige Gerät zu finden, ist nicht leicht. Die Berliner Wasserbetriebe haben vier verschiedene Systeme erprobt. „Zwei Modelle piepsten ständig“, sagt Sprecher Stephan Natz. „Die konnten Straßenlaternen nicht von Fußgängern unterscheiden.“

Das Wasser im Tank bringt Brinkmanns Lkw jetzt zum Schaukeln. Er biegt rechts ab, als eine ältere Dame mit Hund die Straße überquert. „Jetzt piepst es sicher gleich“, sagt er. Aber der Assistent gibt keinen Ton von sich. Brinkmann hat die Fußgängerin aber vom Fenster aus im Blick. Keine Gefahr für die Frau.

Smartes Gerät

Mobileye Shield+ ist ein smartes Gerät. Es kann Straßenschilder lesen. Außerdem kennt es die Geschwindigkeitsbegrenzung in der jeweiligen Gegend. Brinkmann fährt an einem Schild mit Tempo 30 vorbei, gibt etwas Gas – der Assistent bleibt ruhig, wider Erwarten. Brinkmann fährt um drei Häuserblocks, ohne dass Mobileye sich meldet. „Normalerweise macht er sich vier- oder fünfmal pro Tag bemerkbar“, sagt Brinkmann. „In einigen Situationen bin ich so früh gewarnt worden, dass es eigentlich gar nicht brenzlig wurde.“

Der Lkw fährt weiter, auf dem Bildschirm leuchtet ein orangefarbenes Symbol auf, das aussieht wie ein Ampelmännchen. Kein Piepton, obwohl nur etwa einen halben Meter vom Wagen entfernt eine Person steht und aus dem Fenster nicht mehr sichtbar ist. Der Piepton kommt erst bei Gefahrenstufe Rot dazu, er ist hoch wie ein fieser Weckerton. „Am lautesten ist der Kollisionswarner, der macht richtig Lärm.“ Brinkmann zeigt auf eine kleine Taste, auf der ein Pkw abgebildet ist, der gegen einen Lkw stößt.

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer von der CSU ist dafür, eine Abbiegeassistenten-Pflicht schneller einzuführen, als die EU es vorsieht. Dem Bundesverkehrsministerium seien die EU-Pläne „nicht ambitioniert genug“, teilt ein Sprecher mit. Es setze sich für eine verpflichtende Einführung dieser Systeme für neue Fahrzeuge und Fahrzeugtypen ab 2020 ein.

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Unabhängig davon arbeitet Scheuer an der freiwilligen Verbreitung der Systeme. Deshalb hat er das Programm „Aktion Abbiegeassistent“ aufgelegt. Daran beteiligen sich 44 Unternehmen, die sich dazu verpflichten, die Geräte an ihre Laster anzubringen. Da­run­ter sind große Einzelhandelsketten wie Aldi, Edeka oder Lidl. Teil der Aktion ist die finanzielle Förderung von Abbiegeassistenten.

Insgesamt hat das Bundesverkehrsministerium dafür 5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Mittel wurden ab Mitte Januar im Windhundverfahren vergeben: Wer zuerst kommt, bekommt Geld. Die Nachfrage war enorm, innerhalb von vier Tagen waren die Fördermittel ausgeschöpft. „Wir wollen das Förderprogramm ‚Abbiegeassistenzsysteme‘ fortsetzen“, teilt das Verkehrsministerium auf taz-Anfrage mit. „Am Geld soll es nicht scheitern.“

Allerdings: Noch hakt es bei den schon bewilligten Mitteln. Das Programm kann nicht starten. Wenn Unternehmen den Bewilligungsbescheid über die Förderung bekommen haben, müssen sie innerhalb von drei Monaten mit der Umrüstung beginnen. Aber gefördert werden nur Systeme, die bestimmte Mindestvoraussetzungen erfüllen – nämlich nur jene, denen das Kraftfahrtbundesamt (KBA) seinen Segen gegeben hat. Doch diesem lag bis zur vergangenen Woche kein einziger vollständiger Antrag vor, sagt Markus Olligschläger vom Bundesverband Spedition und Logistik. „Der Ball liegt jetzt im Feld der Hersteller.“ Das KBA und das Bundesverkehrsministerium äußerten sich auf Nachfrage dazu nicht.

Die große Nachfrage nach Förderung zeigt die Offenheit der Spediteure für die Montage – sofern sie bezuschusst wird. Die Logistikbranche leidet unter Fahrermangel. Mehr Sicherheit bedeute auch, den Beruf attraktiver zu machen, sagt Olligschläger. „Wie für einen Lokführer ist es für einen Fahrer ein grausames Schicksal, wenn er einen Menschen überfährt.“

Während sich auf Bundesebene wenig bewegt, geht es im grün-schwarz regierten Baden-Württemberg voran. Gemeinsam mit dem Landesverband Spediteure und Logistik hat die Landesregierung einen Feldversuch mit dem Abbiegeassistenten initiiert. Es ist der bundesweit erste Test, bei dem verschiedene Techniken erprobt werden. Insgesamt sollen 500 Lkws zwei Jahre wissenschaftlich begleitet werden. Zur Wahl stehen die digitale Bildunterstützung, Ultraschall, ein Kameramonitorsystem mit Radar, eine intelligente Kamera mit wahlweise einer oder zwei Kameras mit optischer und akustischer Warnung. Das Stuttgarter Verkehrsministerium finanziert das Projekt mit 500.000 Euro, die beteiligten Unternehmen zahlen für die Nachrüstung knapp 330 Euro.

Zurück in Brinkmanns Lkw. Sein Assistent meldet sich nur, wenn sich etwas bewegt. Er kann sich nicht blind darauf verlassen. Trotzdem, betont er, sei es gut, dass er ihn habe. Brinkmann sitzt so hoch, dass ein Passant, der direkt vor ihm läuft, durch die Windschutzscheibe kaum sichtbar ist. „Hier gibt es keine Kamera, aber der Spiegel reicht“, sagt Brinkmann. Wie er es schafft, alle Spiegel, die Rückfahrkamera und auch noch den Abbiegeassistenten im Auge zu behalten? „Übung“, sagt er.

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