heute in hamburg
: „Ich betreibe Leichen­fledderei“

Vortrag & Diskussion: „Punk als Avantgarde“, mit Adorno-Zitaten, Musik und Dosenbier, 19 Uhr, Studienbibliothek, Billhorner Brückenstraße 40

Interview Till Wimmer

taz: Frau Kracher, was ist Punk an Ihnen?

Veronika Kracher: Ich habe eine PunkerInnen-Sozialisation gehabt, der ich retrospektiv kritisch gegenüberstehe. Gerade in der deutschen Punkszene habe ich eine Menge sexuelle Gewalt und Chauvinismus erfahren. Das waren nicht wirklich reflektierte Leute. Ich würde aber sagen, dass sich im Punk nach wie vor der Wunsch nach einer Negation der Verhältnisse manifestiert. Die Artikulation der Verzweiflung am Leben unter den herrschenden Zuständen am eigenen Körper. Mit den Nieten in der Lederjacke und den Sicherheitsnadeln durch die Backe.

Ist das auch das Avantgardistische am Punk?

Jein. Der progressiven Avantgarde wohnt es ja durchaus inne, eine Kritik an den Verhältnissen ästhetisch zu vermitteln. Der Dadaismus war sowohl formal als auch inhaltlich eine Kritik an den Zuständen der Weimarer Republik, also am Aufstieg des Faschismus und an den beschissenen Zuständen, den die Kriegsveteranen des 1. Weltkriegs erleiden mussten. Aber immer auf eine sehr spielerische Art und Weise.

Welchen Einfluss hatte der Dadaismus auf die Jugendkultur der 70er Jahre?

Einerseits einen historischen, vermittelt über den Situationismus, andererseits einen ästhetischen. Schaut man sich die frühen Punk-Alben oder auch die Punkzines von heute an, erkennt man zum Beispiel die Collagen des Dadaismus wieder. Während meiner ersten journalistischen Gehversuche mit 14 Jahren habe ich auch solche Fanzines gebastelt und, ohne dass es mir bewusst war, Kunst in der Tradition der Avantgarde gemacht.

Gibt es ein modernes Pendant zur Punkbewegung von damals?

Foto: privat

Veronika Kracher, 28, schreibt unter anderem für die Jungle World und die taz. Sie hat Soziologie und Literaturwissenschaften studiert.

Meine Erfahrungen waren beschissen. Da ging es darum schlechte Musik zu hören und Bier zu trinken. Aber das Potential ist noch da. Es muss halt nur entdeckt und ausgelebt werden. Aus Punks von früher, wie der Verleger Martin Büsser oder die Autorin Tine Plesch, sind ja auch intelligente und gesellschaftskritische Leute geworden.

Scheitert der Punk, wenn man ihn akzeptiert und theoretisiert?

Es führt ihn in einen wissenschaftlichen Jargon, ja. Man kann sagen, dass das schon Teil einer Kulturindustrialisierung ist. Ich betreibe aber lieber Leichenfledderei an den Residuen, indem ich den emanzipatorischen Momenten des Punks auf die Spur gehe.