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Eine Frage der Haltung

Satt und sauber – das ist bei Weitem nicht genug. Gerade in Zeiten des zunehmenden Pflegenotstands gewinnt das Thema des Alterns in Würde immer mehr an Bedeutung

Auf die persönliche Zuwendung kommt es an Foto: imagebroker/imago

Von Cordula Rode

Pflege daheim, alternative Wohnformen wie WGs oder Mehrgenerationenhäuser – die Möglichkeiten des Lebens im Alter werden vielfältiger und offener. Was aber, wenn durch gesundheitliche Einschränkungen der Umzug in eine Pflegeeinrichtung unumgänglich ist? Anders als in vielen konventionellen Einrichtungen steht bei der anthroposophischen Pflege der Mensch in seiner Ganzheit im Mittelpunkt.

„Wir haben einen anderen Blickwinkel“, fasst Daniela Berger das Konzept in schlichte Worte. Seit fast zehn Jahren ist die 38-Jährige als Pflegefachkraft im anthroposophisch ausgerichteten Alten- und Pflegeheim Tobias-Haus in Ahrensburg bei Hamburg tätig. Der ganzheitliche Ansatz eröffnet aus ihrer persönlichen Erfahrung eine völlig andere Perspektive: „Wir nehmen den Menschen in seiner Individualität wahr. Und wir schauen nicht auf die Defizite, sondern auf die verbliebenen Fähigkeiten, die wir fördern können.“ Dabei stehen in der anthroposophisch ausgerichteten Pflege zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung, basierend auf den zwölf pflegerischen Gesten (siehe Kasten). Die pflegerische Geste ist, vereinfacht gesagt, das Verbindungsglied zwischen der äußeren Pflegehandlung und der inneren Haltung, mit der sie ausgeführt wird, eine umschließende und behütende Gebärde. Ein leichter Druck in die Hand­innenfläche, um die Faust zu lösen, eine sanfte Berührung, die beim Aufrichten des Patienten hilft – solche Gesten eröffnen viele Möglichkeiten, auch Menschen zu erreichen, die sich auf anderem Wege nicht mehr mitteilen können. „Kontakt ist immer möglich“, weiß Daniela Berger. „Es kommt auf die Her­angehensweise an.“ So hat die erfahrene Pflegerin auch besonders gute Erfahrungen mit rhythmischen Einreibungen gemacht: „Gerade Menschen mit Demenz haben oft große Probleme, ihre Körpergrenzen noch ausreichend wahrzunehmen.“ Die Einreibungen mit speziellen Ölen helfen bei der Orientierung und wirken dabei zugleich auf das geistige und seelische Empfinden ein: „Ein Mann mit schwerer Demenz war dadurch, wenn auch zeitlich begrenzt, in der Lage, ein klares und orientiertes Gespräch zu führen.“

Die zugewandte innere Haltung, die die Basis für diese besondere Art der Pflege ist, wachsen zu lassen ist eine der grundlegenden Aufgaben der Ausbildung. Im Fachseminar am Mergelteich in Dortmund werden seit dreißig Jahren angehende Altenpflegerinnen und Altenpfleger ausgebildet. Die Inhalte der anthroposophisch erweiterten Altenpflege werden hier zusätzlich zum festgelegten Curriculum vermittelt – ohne Indoktrination. „Wir wollen nicht missionieren“, erklärt Bettina Markert, die das Seminar leitet. „Oft gibt es Berührungsängste – wir möchten einfach die Vorteile unserer speziellen Ausbildung und die leichte Anwendbarkeit im Berufsalltag zeigen.“ Dabei haben die Schülerinnen und Schüler des Seminars eine gewisse Botschafterrolle inne, denn: „Es gibt nicht so viele anthroposophisch ausgerichtete Pflegeeinrichtungen, dass alle Absolventinnen und Absolventen dort eine Stelle bekommen könnten.“ Doch auch „konventionelle“ Einrichtungen schätzen die Qualitäten der hier ausgebildeten Fachkräfte, welche viele der leicht anwendbaren Methoden der anthroposophischen Pflege einsetzen und auch weitergeben können.

Rolf Heine entwickelte als Koordinator des internationalen Anthroposophischen Pflegeforums der Filderklinik in Stuttgart das Konzept der zwölf pflegerischen Gesten. Sie werden nicht nur in der Altenpflege, sondern in allen Bereichen der Pflege angewandt. Die Gesten bestehen aus den Handlungen: reinigen, nähren, entlasten/helfen, schützen/abwehren, ordnen, hüllen, ausgleichen, anregen, zumuten, erwecken, bestätigen, aufrichten.

Der ganzheitliche Ansatz der anthroposophischen Lehre bezieht sich dabei nicht allein auf die zu pflegenden Personen – auch die Auszubildenden werden in ihrer Gesamtheit wahrgenommen und gefördert: „Die Persönlichkeitsentwicklung unserer Schülerinnen und Schüler ist ein wichtiger Aspekt in der Ausbildung“, weiß Bettina Markert. „Gerade die ganz jungen Menschen, die zu uns kommen, brauchen unsere Unterstützung und den Halt in der Gruppe. Da ist Fürsorge genauso ein Thema wie der Umgang mit den älteren Menschen in der Pflege.“

Uwe Bartholl lebt seit fast zwei Jahren im Tobias-Haus bei Hamburg. Der 87-Jährige ist selbst nicht auf Pflege angewiesen – die zunehmende Demenz seiner Frau aber überforderte ihn, sodass beide gemeinsam ein Appartement in der Einrichtung bezogen. Diesen Entschluss hat er nicht bereut: „Wir sind hier richtig gut aufgehoben.“ Mithilfe der gezielten Unterstützung durch die Pflegekräfte ist er in der Lage, seine Frau liebevoll durch den Alltag zu begleiten. Gemeinsam nehmen die Eheleute an den vielfältigen Angeboten teil, gehen zum Sport, zur Eurythmie, zum Malen. Dabei ist Uwe Bartholl oft eine Art Dolmetscher für seine Frau, um den Kontakt zu den anderen Bewohnern zu ermöglichen: „Ich bin ihr Gedächtnis.“

Wenn für ihn die Belastung manchmal zu groß wird, findet er partnerschaftliche Unterstützung und Hilfe bei den Angestellten: „Ich lerne viel dazu – wenn mich die Ungeduld packt, erinnern mich die Pflegekräfte sanft daran, meiner Frau stets mit der gebührenden Achtung zu begegnen, um ihre Verlust­ängste nicht zu vergrößern.“

Detaillierte Informationen zum Konzept der anthroposophischen Pflege und Broschüren zum Download findet man auf der Homepage des Verbands für Anthroposophische Pflege e. V.: www.vfap.de

Das Nikodemus Werk e. V. bietet auf seiner Website neben vielen Hintergrundinformationen rund um die anthroposophische Altenpflege auch eine Suchfunktion für anthroposophische Pflegeeinrichtungen: www.nikodemuswerk.de

Den zunehmenden Bedarf bei der körperlichen Pflege seiner Frau begleitet er behutsam: „Wir gewöhnen sie gemeinsam schonend daran, Hilfe von anderen anzunehmen.“ Die harmonische Zusammenarbeit zwischen Ehemann und ­Pflegekräften ermöglicht es dem Paar, trotz der Erkrankung der Frau weiter zusammenzuleben.

Uwe Bartholl ist fest davon überzeugt: „Das ist der beste Ort, den ich mir für uns vorstellen kann.“