„Es sind neue Wege“

Sie kam von außen: Soldatentochter, Konvertitin, Orgelfeindin. Jetzt bringt die Pastorin Ellen Radtke die Dorfkirche ins Internet

Interview Jan-Paul KoopmannFoto: Christian Wyrwa

taz: Frau Radtke, bei der Kirche arbeiten Sie im Moment daran, Bremke zum „Vernetzten Dorf“ zu machen. Was sucht die Dorfkirche im Internet?

Ellen Radtke: Einer der größten Vorschläge war bisher, Gottesdienste aus den Nachbardörfern zu streamen. Bremke ist mit 800 Leuten ein kleiner Ort, zur Kirchengemeinde gehören aber noch drei weitere, unter denen sich die Pfarrerin aufteilen muss. Über Streaming könnte da wieder ein wöchentlicher Gottesdienst stattfinden. Auch bei Snapchat-Andachten für Jugendliche lässt sich das Digitale supergut nutzen. Die konkreten Ideen und Wünsche kommen noch aus der Gemeinde, alle Haushalte wurden auch per Fragebogen angeschrieben – und beim „Vernetzten Dorf“ geht es ja auch gar nicht nur um Kirche.

Sondern?

Unser Ziel ist die allgemeine Steigerung der Lebensqualität im ländlichen Raum. Die Technik soll Mobilität verbessern und Absprachen vereinfachen. Von der gemeinsamen Heizölbestellung über Fahrgemeinschaften zum Sport bis hin zu Älteren, die vielleicht mal Hilfe im Garten oder beim Haushalt benötigen.

Also soll die Bremker Bevölkerung nicht nur ins Internet, sondern sich digital auch untereinander vernetzten?

Genau, Bremke ist dafür ein Modellprojekt und das soll dann später mit den Erfahrungen, die wir da machen, ausgeweitet werden. Das ist natürlich super für ländliche Regionen, die zum Teil ja wirklich abgehängt werden durch fehlende Infrastruktur.

Nun ist die Kirche nicht einfach irgendein Träger für Infrastrukturmaßnahmen. Verstehen Sie das Projekt andersherum auch als Modernisierung von Kirche?

Die Kirchengemeinde weiß natürlich, wie wichtig das Dorf ist und dass so ein Projekt auch eine gute Chance ist, an Gelder und Personal heranzukommen, um Gemeinde und Dorf voranzubringen. Aber es ist jetzt keine große Reform, falls Sie das meinen. Es sind neue Wege für uns, ganz klar. Aber Wege einer Kirche, die eh rausgeht und sich öffnet. Kirche ist eben nicht mit Gottesdienst fertig beschrieben, sondern wird da sie selbst, wo sie sich kümmert.

Bevor Sie evangelische Pfarrerin wurden, sind Sie aus der katholischen Kirche ausgetreten. Wie kam es dazu?

Mit 18 bin ich ausgetreten. Zwei Tage nach meinem Geburtstag. Angefangen hatte das aber schon ein paar Jahre vorher, als ich zur Firmung kam. Ich war schon irgendwie gläubig, hätte das mit 14 aber nicht in die richtigen Worte fassen können. Und dann diese Firmung … Der Gottesdienst erschien mir so merkwürdig. Auf einmal musste ich nachsprechen, ich würde dem Teufel entsagen – und all seinen Dämonen. Ich hatte mich noch nie mit dem Teufel und seinen Dämonen beschäftigt und sollte jetzt irgendwie was dazu sagen.

Geht das nicht vielen ähnlich, die sich konfirmieren lassen und ein paar Jahre später austreten?

Für mich war der Gottesdienst ein erster Moment, wo ich dachte: Was mache ich hier eigentlich? Und das hat dazu geführt, dass ich mich erst wirklich mit meiner Kirche beschäftigt habe. Und je mehr ich das getan habe, desto mehr konnte ich sagen: Das ist nicht meins. Dann kommt natürlich die Pubertät, die Rebellion und man findet ja sowieso alles ätzend, was um einen passiert. In der Zeit habe ich eine evangelische Religionslehrerin an meiner Schule kennengelernt, die irgendwie anders war als die ganzen Katholiken um mich herum. Und die hat dieses typisch pubertäre Rebellentum, wie ich heute sagen würde, aufgefangen und mir stattdessen Informationen gegeben.

Und dann?

Der Rest ging wie automatisch. Ich bin einfach nicht katholisch. Der Weg ging dann so, dass ich als Soldatenkind Kontakt zur evangelischen Militärseelsorge hatte. Ich habe dem Militärpfarrer gesagt, dass ich in die evangelische Kirche eintreten möchte und der hat zum Glück den ganzen Papierkram erledigt. Ich wusste ja gar nicht, wie so was geht.

Wie haben Ihre Eltern das verkraftet?

Meine Mutter musste schon schlucken, als ich ihr zum ersten Mal von meinen Überlegungen erzählt habe. Die war im Pfarrgemeinderat und Kommunionshelferin – sie hat uns Unterricht gegeben. Meine Mutter war jedenfalls aktiv, aber so, wie die meisten Katholiken es eben sind: nicht streng-katholisch in dem Sinne, dass sie mit uns den Katechismus durchgenommen hätte, oder so. Als ich ihr erklärt habe, warum ich austreten will, war es für sie dann auch in Ordnung.

Haben Sie vorher denn am Gemeindeleben teilgenommen?

33, ist Pastorin einer Kirchengemeinde im Hildesheimer Land und leitet das Projekt „Das vernetzte Dorf“ als Referentin im Haus kirchlicher Dienste in Hannover. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrer Frau in Eime am Fuß des Weserberglands.

Das Projekt bremke.digital wird im Programm land.digital vom Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung gefördert. Es wird durchgeführt in Kooperation zwischen der Stiftung Digitale Chancen in Berlin und dem Haus kirchlicher Dienste in Hannover.

Solange ich mich nicht damit beschäftigt hatte, wofür die Kirche inhaltlich steht, war sie eine Institution, in die ich gerne gegangen bin. Ich habe den Kindergottesdienst gemocht. Und als Jugendliche habe ich mich gefreut, dass es den Jugendkeller gab – und am Wochenende Partys. Das war eher so eine sehr oberflächliche Prägung. Man macht es halt, aber man muss ja deswegen nicht gleich zu allem Ja sagen.

Zum Anfang Ihrer Ausbildung in der evangelischen Kirche haben Sie mal gesagt, Sie würden dort sicher anecken. Ist das passiert?

Tja, manchmal bestimmt. Meine Frau sagt mir ja immer eine Berliner Schnauze nach, obwohl ich da ursprünglich gar nicht herkomme. Es ist bestimmt aber auch passiert, weil ich die Kirche nicht kannte. Ich bin ja nicht damit aufgewachsen, habe nicht schon im Kindesalter Paul-Gerhardt-Lieder gesungen und die Liturgie kennengelernt. Ich weiß zum Beispiel noch, wie ich zum ersten Mal im Predigerseminar stand und wir in Kleingruppen liturgische Gesänge üben sollten. Dann hieß es beiläufig: „Wir singen jetzt alle nacheinander das Kyrie.“ Und ich stand da so und kannte das Lied nicht.

Warum sind Sie als Neu-Evangelische denn direkt Pfarrerin geworden?

So direkt war das gar nicht – das kam erst gegen Ende meines Studiums. Ursprünglich wollte ich ins Verlagswesen, als Lektorin oder so. Ich fand nur das Thema Theologie so spannend und wollte unbedingt diese Sprachen lernen.

Und so einfach war es dann nicht?

Mir fehlte irgendwas, oder zumindest hat mir die Ausbildung das Gefühl gegeben, dass da etwas fehlt. Das ist aber noch schwieriger: Ich komme nicht aus einem akademisch geprägten Elternhaus. Das ist in akademischen Kreisen ohnehin oft ein Problem, in der Theologie aber noch viel mehr. Da gibt es sehr viele Pfarrerskinder, die eine Vorprägung mitbringen, die ich eben nicht habe. Auch kulturell: Ich mag keine Orgelmusik – und ich kann mit Bach nichts anfangen. Das ist alles nicht so meins. Es hat lange gedauert, bis ich gecheckt habe, dass es in der Kirche doch wesentlich bunter zugeht.

Was ist der Unterschied zwischen der Außenseiterin in der evangelischen Kirche und jemandem, der sich in der katholischen fremd fühlt? Hätten Sie sich nicht auch da irgendwie durchbeißen können?

Die Grundüberzeugung ging nicht. Natürlich kann man auch in der evangelischen Kirche an diversen Strukturdebatten teilnehmen und man muss sich überlegen, wie man die Dinge anders aufstellt. Wir sind eben vielfältig und uns längst nicht überall einig. Die Frage, ob wir als queeres Paar heiraten dürfen, ist zum Beispiel auch noch nicht in allen Landeskirchen entschieden. Aber die Grundüberzeugung ist eben eine, die ich teile. Deswegen kann ich die evangelische Kirche als eine Heimat begreifen – und das war die katholische einfach nicht.

Wenn wir schon bei Heimat sind: Sie arbeiten heute nicht nur als Referentin am Vernetzten Dorf, sondern sind mit Ihrer Frau auch selbst aus Berlin aufs Land gezogen. Warum?

Das war ursprünglich gar nicht unsere Idee. Im Rahmen der Ausbildung sucht man sich nichts aus – da wird man entsendet. Und zumindest in Berlin-Brandenburg ging es damals in der Regel an Stellen, auf die sich länger niemand beworben hatte. Da kam ich in ein kleines Dorf nach Brandenburg und habe da zum ersten Mal überhaupt über solche Sachen wie Heimatverbundenheit nachgedacht. Als wir dann im nächsten Schritt zur Evangelischen Kirche Deutschland nach Niedersachsen sind – da hat meine Frau gesagt: „Okay, aber ich will das Dorfleben nie mehr missen.“

Die kam aber ursprünglich auch nicht vom Land?

Es hat lange gedauert, bis ich gecheckt habe, dass es in der Kirche doch wesentlich bunter zugeht

Nein, die ist Berliner Stadtpflanze: die kommt daher, ist da aufgewachsen. Aber sie hatte sich dann so sehr verliebt, dass wir uns entschieden haben, zur Arbeit in Hannover eben nicht in die Stadt zu ziehen, sondern in ein Dorf.

Das Landleben war nach der Konversion dann schon wieder eine völlig neue Welt, oder?

Es waren immer andere Welten, klar! Meine Ausbildungsgemeinde war eine der größten in Berlin: tolle Teams mit engagierten Menschen für alle möglichen Bereiche. Und Brandenburg war dann ein absoluter Kulturschock. Plötzlich war ich für fünf Kirchen verantwortlich und hatte fast nur mit Menschen zu tun, die schon immer dort gelebt hatten. Und auch noch im Osten, der schon noch ganz anders getickt hat damals.

Waren die Leute misstrauisch?

Vielleicht ein bisschen. Aber eigentlich haben sie mich wahnsinnig warmherzig empfangen und sich wirklich gefreut. Ich allerdings habe erst mal ein halbes Jahr gebraucht, um auf die Dorffeste zu gehen – oder abends in der Kneipe zu sitzen und mit den Menschen zu reden. Ich habe jedenfalls einer ganze Weile gebraucht, um auch nur eine Idee davon zu bekommen, was die Leute da bewegt.

Helfen solche Erfahrungen bei einem Projekt wie dem Vernetzten Dorf?

Bremke ist ja nochmal wieder ganz anders. Dorf ist ja überhaupt nicht gleich Dorf. Bremke ist verhältnismäßig jung und bietet sich als Modellprojekt zum Beispiel auch deshalb so an, weil es da bereits eine tolle Freifunk-Ini­tiative gibt. Die Menschen sind da auch analog schon gut vernetzt. Wir probieren gerade aus, wo die Bedarfe sind und erstellen die Plattform dann so, wie die Leute vor Ort sie haben wollen. Die wissen am besten, was sie brauchen. Das Digitale ist ja auch kein Zaubermittel, mit dem man kommt und sagt: „So, wir retten euch jetzt. Da habt ihr Internet und alles wird gut.“