taz🐾thema
: anthroposophie

die verlagsseiten der taz

Sich selbst wieder spüren

Der Therapie von Alkoholsucht liegen in anthroposophischen Kliniken ganzheitliche Ansätze zugrunde: mit kunst-, drama- und bewegungstherapeutischen Methoden

Ein Gefühl seelischer Leere? Foto: Klaus Ohlenschläger/picture alliance

Von Susanne Kretschmann

Alkoholabhängigkeit ist deutschlandweit die am häufigsten behandelte Sucht. In der Fachklinik für Drogenkrankheiten „Siebenzwerge“ im baden-württembergischen Salem sowie im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke wird Suchtkranken unter Einbeziehung therapeutischer Ansätze aus der Anthroposophie – wie Kunsttherapie, Eurythmie, Heil­eurythmie und Schauspiel – wieder Sinn- und Sinnhaftigkeit und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit gegeben.

Bei Suchterkrankungen versuchen die Betroffenen durch das Suchtmittel die Leere im seelischen Bereich zu füllen oder negative Gefühle und Gedanken zu überdecken. Der Suchtstoff verschafft eine vorübergehende Linderung des Leidens, doch sobald sich der Körper an die Einnahme gewöhnt hat, muss die Dosis gesteigert oder die Frequenz erhöht werden, um die Wirkung beibehalten zu können. In der letzten Phase einer Sucht ist es Betroffenen nicht mehr möglich, ihren Alltag zu meistern, die Gedanken kreisen ausschließlich um die Droge und deren Beschaffung. Das Weglassen des Suchtstoffs verursacht körperliche Entzugserscheinungen und ein Erleben von Leere, was für die Betroffenen sehr belastend ist.

Hat sich ein Suchtkranker für ein Leben ohne Alkohol entschieden, erfolgt der Entzug durch eine qualifizierte Entgiftung, die stationär unter der Gabe von Medikamenten durchgeführt wird. Im Anschluss bieten anthroposophische Kliniken Heilmethoden an, die den Ansatz der Ganzheitlichkeit verfolgen und den Menschen in seiner Gesamtheit bestehend aus Körper, Seele und Geist verstehen. Alkoholabhängige Menschen haben meist den (positiven) Kontakt zum eigenen Körper verloren. „Die für die Betroffenen oft ungewohnten, heil­eurythmischen Übungen laden dazu ein, in den Körper hin­einzuspüren, sich bewusst mit den Bewegungen und Übungen zu verbinden und sie regelmäßig zu wiederholen, sodass sie auch in Situationen angewandt werden können, in denen sonst die Gefahr des Rückfalles groß wäre“, sagt Volker Hentschel, kommissarischer leitender Arzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke. „Es geht darum, die bewusste Auseinandersetzung der betroffenen Menschen mit sich selbst zu unterstützen und zu begleiten. So wird in den Kunsttherapien weniger auf das Produkt als auf den Prozess, die Tätigkeit des Einzelnen geblickt, und die Betroffenen werden angeregt, dies mitzuerleben.“

Friedel Ulrich Lehmann ist leitender Arzt der Fachklinik für Drogenkrankheiten „Siebenzwerge“ und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychosomatik Psychotherapie, Verhaltenstherapie, Suchtmedizin und Naturheilverfahren. Er betont den hohen Stellenwert von kunst-, drama- und bewegungstherapeutischen Methoden, da mit ihnen einerseits eine neue Selbst- und Wirksamkeitserfahrung gemacht werden kann, sie andererseits mit salutogenetischer Wirksamkeit dem Menschen die Chance geben, „zu einem selbstfürsorglicheren, selbstverantwortlicheren und selbstschätzenderen Zugang und Umgang mit sich zu kommen“. Dazu führt Lehmann aus: „In der anthroposophisch erweiterten Kunsttherapie wird therapeutisch nicht nur hingearbeitet auf psychisch expressiv her­aussetzende Aktivitäten oder retrospektiv analytische Deutungsversuche, sondern vielmehr auf die wichtige Entdeckung und Erfahrung eigener Gestaltungsmöglichkeiten im gegenwärtigen Raum und eben auch gestaltende und wirkkräftige Möglichkeiten in den Zukunftsraum hinein – im Sinne der wichtigen Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Sinnhaftigkeit und auch Sinnstiftung durch schöpferisch-hilfreiches Tun und ästhetisches Erleben. Die Erfahrung von Veränderung durch Rhythmus und Bewegung im geistigen, seelischen, körperlichen und sozialen Zusammenhang ist evident.“

Ein wichtiger Schritt ist die bewusste Auseinandersetzung mit sich selbst

Die Population der Suchtkranken ist äußerst heterogen, die Umstände, die zu Alkoholsucht führen, vielfältig. Jugendliche sind besonders gefährdet. Friedel Ulrich Lehmann: „Hier erlebe ich unterdessen zunehmend Mangel-, Miss- und Fehlverhalten hinsichtlich einladender Vorbildhaftigkeit von uns Erwachsenen. Vieles von dem, was wir da kritisieren und beklagen am Verhalten der Heranwachsenden, leben wir ja durchaus leider vor. So scheint mir diese Gruppe der Zukunftsgestalter zu wenig angemessene Beachtung und Unterstützung zu bekommen.“ Zur Gefahr der Sucht erklärt Volker Hentschel: „Je mehr Menschen seelischen Bedrängnissen oder Leeregefühlen ausgeliefert sind, umso anfälliger sind sie für Suchterkrankungen. Welche süchtigen Verhaltensweisen oder -stoffe sie wählen, hängt auch maßgeblich von der Verfügbarkeit ab.“

An dieser Stelle macht Hentschel auf ein für Jugendliche besonders leicht zu beziehendes potenzielles Suchtmittel aufmerksam: „Hier sind Jugendliche neben den üblichen Stoffen, wie Alkohol und Drogen, gerade durch die ubiquitäre Verfügbarkeit durch Online- und PC-Spiele gefährdet. Diese verschieben das Realitätserleben gegenüber sich selbst, dem eigenen Körper und der Welt in besonderem Maße.“