Noise-Festival in Hamburg: Lärmende Gespenster

Zum dritten Mal beschäftigt sich das Festival „Noisexistance“ mit Krach – und wirft einen feministischen Blick auf die männlich geprägte Noise-Szene.

Ein Mensch mit einer Maske sitzt an einem Schreibtisch.

Störender Lärm unerwünscht: Hugo Gernsbacks „Isolator“ von 1935 Foto: A Great Disorder

HAMBURG taz | Das wäre das ultimative Störgeräusch: ein lauter Knall, mit dem alles zu Ende geht – die Welt, der Mensch, die Geschichte. Mit einem Knall schlug jedenfalls Anfang der 1990er-Jahre diese steile These des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama ein: Mit dem Sieg des „wirtschaftliche[n] und politische[n] Liberalismus“ über die sozialistischen Gegenentwürfe sei die Geschichte selbst an ihr Ende gekommen. Demokratie und Marktwirtschaft würden fortan „alle Widersprüche überwinden und alle Bedürfnisse befriedigen“ – ein ewiges Paradies, nie wieder Krieg der Ideologien.

Aber auch Fukuyama musste, nachdem er für seinen geschichtsphilosophisch grobschlächtigen Triumphalismus schnell vehement kritisiert worden war, einsehen, dass er lautstark hochtrabenden Blödsinn herbeifantasiert hatte: Es mag ja vieles an sein Ende gekommen sein damals – die Ideologien aber feiern unbestreitbar weiter fröhliche Urständ. Viel Lärm um nicht viel also, diese These vom Ende der Geschichte.

Mit dem Begriff des Lärms selbst wiederum kann man sie durchaus sinnvoll in Beziehung setzen, oder besser: mit Noise und den Debatten darum – eindeutig ins Deutsche übersetzen lässt sich das englische Wort nämlich nicht, das ein weites Feld von Assoziationen eröffnet zwischen und um Begriffe wie Geräusch, Störung, Krach, Rauschen oder auch Unverständlichkeit.

Noise sei deshalb ein geradezu gespenstischer Begriff, der selbst zum Noise – zur Irritation, zur Störung, zur Verunklarung – in den Diskursen werde, in denen er herumgeistert, sagt David Wallraf. Wallraf ist einer der Organisator*innen des Festivals „Noisexistance“, das sich am kommenden Freitag und Samstag auf Kampnagel zum dritten Mal mit Konzerten und Vorträgen mit der „Theorie und Praxis des Lärms“ beschäftigt.

Spuk in den Diskursen

Und dabei mit eben diesem Gespenstischen: dem Phänomen, dass Wiedergänger aus vermeintlich vergangenen Zeiten oder anderen Logiken auf eigentümliche Weise im Hier und Jetzt auftauchen. Damit beschäftigte sich der französische Philosoph Jacques Derrida 1993 in seinem Essay „Marx’ Gespenster“, der – unter anderem – auch eine Erwiderung auf Fukuyamas Geschrei ums Ende der Geschichte war.

Statt Marx’ Geist zu vertreiben, forderte Derrida, müsse man vielmehr Freundschaft schließen mit den bis heute herumspukenden Marx-Gespenstern und eine Gespensterforschung betreiben, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen: eine „Hantologie“, die die Logiken solcher Heimsuchungen untersucht. Eine zentrale Rolle spielt dabei nicht die Idee eines Endes, sondern die auf Shakespeares „Hamlet“ zurückgehende Idee, die Zeit selbst sei „out of joint“ – aus den Fugen geraten.

Klingt kompliziert? Es wird noch komplizierter: Denn „Noisexistance“ möchte die verschiedenen Fäden dieser Debatte nicht nur nach fast 30 Jahren wieder neu zusammenknüpfen, sondern auch auf aktuelle musik- und gesellschaftstheoretische Debatten rund um das sich immer weiter ausdifferenzierende Genre Noise beziehen – und das Gespenstische ausdrücklich im Line-up des Festivals erlebbar machen.

Feministisches Krachschlagen

Die Grundthese dabei: Noise als Genre, in dem klassische musikalische Elemente wie der reine Ton oder Klang oft vollständig durch Geräusche ersetzt worden sind, sei so etwas wie das Ende der Musikgeschichte. Im Rückblick auf seine Geschichte wiederum, sagt Wallraf, müsse man analog zum Schicksal der Fukuyama-These feststellen: Nach dem vermeintlichen Ende läuft trotzdem alles immer weiter, fächert sich das Genre etwa in immer mehr Subgenres auf: „Noise evoziert inzwischen seine eigenen Gespenster“, sagt Wallraf.

Konkret erlebbar werden sollen auf der Bühne deshalb das Aus-den-Fugen-Geraten des Noise, seine Zerstreuung in verschiedene Richtungen und die Verbindungen, die Noise mit anderen Genres wie elektronischer Klubmusik oder Hip-Hop eingeht; und nicht zuletzt die politischen Aspekte, die mit diesem permanenten Selbstberauschen verbunden sind. Insbesondere soll dabei diesmal ein feministischer Blick auf Noise geworfen werden. Auf der Bühne stehen deutlich mehr Frauen als Männer – untypisch für die deutlich männlich dominierte Szene.

Fr, 29./30. 3., 19 Uhr, Kampnagel, Hamburg

Infos: www.noisexistance.com

Unter anderem ist Brut zu erleben – die hat gerade erst ein feministisches Noise-Manifest geschrieben. Einen feministischen Blick auf aktuelle Debatten um Noise werfen außerdem die beiden Vorträge, die im Rahmen des Festivals zu hören sind: Die Britin Marie Thompson, Mitbegründerin des „Sonic Cyberfeminism Project“, verknüpft Noise mit feministischen Fragen nach Reproduktionsarbeit und Geschlecht und fordert, Noise nicht als Antithese (etwa zur Musik oder Stille) zu denken und durch seine Lautstärke, Härte oder Rauheit zu definieren, sondern seine produktive Dimension herauszustreichen: Was tut, leistet, erreicht Noise?

Cecile Malaspina wiederum plädiert dafür, Noise nicht technisch zu konzipieren, sondern ästhetisch – und aufs Problem der Wahlfreiheit zu beziehen.

An eine Frau wurde denn auch erstmals ein Kompositionsauftrag vergeben, der sich ausdrücklich mit dem Festivalthema beschäftigen wird: „There’s no time here, not any more“ heißt das Stück der Hamburger Musikerin und Autorin Leyla Yenirce aka Rosaceae.

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