Notbremsung mit Anker 100 Meter vor der Klippe

Ein Kreuzfahrtschiff mit mehr als 1.300 Menschen an Bord gerät im Sturm in Seenot

Von Reinhard Wolff, Stockholm

„Es war surrealistisch“, beschrieb der US-Amerikaner Rodney Horgan einem Reporter des norwegischen Rundfunks NRK die Situation an Bord des Kreuzfahrtschiffes „Viking Sky“. Plötzlich seien gewaltige Wassermassen durch ein zerschlagenes Fenster hereingeströmt und hätten alles mit sich gerissen: „Stühle, Tische, Menschen, auf einmal war auch meine Frau Judy weg. Ich dachte an die ‚Titanic‘. Das war es also, schoss mir durch den Kopf.“

Für die 915 Passagiere und 458 Besatzungsmitglieder sollte die Fahrt vom nordnorwegischen Tromsø gen Süden planmäßig am Sonntag im südnorwegischen Stavanger zu Ende gehen. Doch am Samstagmittag geriet die „Viking Sky“ zwischen den Häfen von Kristiansund und Molde in einen schweren Sturm. Aufgrund einer Motorhavarie verlor sie aus bis Redaktionsschluss ungeklärten Gründen das Manövriervermögen und trieb immer näher auf die Küste zu.

Das Hustadvika genannte Gebiet gilt als „eines der gefährlichsten“ an der gesamten Küste. Wegen vieler Riffe und Untiefen können sich hohe Wellen aufbauen. In der Vergangenheit gab es hier öfters Schiffsunfälle.

Gegen 14 Uhr sendete die „Viking Sky“ das Notsignal Mayday. Der Kapitän ordnete die Evakuierung an. Angesichts des Sturms und der lokalen Verhältnisse konnte diese nur aus der Luft erfolgen. Ab 16 Uhr begann eine aufwendige und zeitraubende Operation, die auch während der Nacht fortgesetzt wurde: Einzeln mussten die vorwiegend älteren Passagiere bei starken Windböen zu den Rettungshubschraubern hochgehievt werden. Zeitweise mussten zwei der fünf eingesetzten Helikopter zur Rettung von neun Seeleuten eines Frachters abgezogen werden, der unweit des Kreuzfahrtschiffs in Seenot geraten und starke Schlagseite bekommen hatte.

Am Sonntagmorgen und nach Evakuierung von 479 Passagieren wurde die Rettungsaktion eingestellt. Der Sturm hatte nachgelassen, drei der vier Motoren der „Viking Sky“ konnten wieder in Gang gesetzt werden. Mit Schlepperhilfe steuerte sie den Hafen von Molde an, das sie am späten Sonntagnachmittag erreichte.

Das Rote Kreuz meldete 20 Leichtverletzte in Krankenhausbehandlung, außerdem „viele traumatisierte Passagiere, die von Fachkräften versorgt werden“. „Wir hatten gewaltiges Glück“, äußerte sich Torstein Hagen, Gründer und Chef der Reederei Viking Ocean Cruises erleichtert. Die Anker hatten die „Viking Sky“ etwa eineinhalb Kilometer vom Land entfernt gestoppt. Nur 100 Meter von einer Untiefe entfernt, die dem Schiff mit seinem Tiefgang von 6 Metern hätte zum Verhängnis werden können, sagt der Lotse Emil Heggelund.