heute in hamburg
: „Wir dachten, Demokratie sei scheiße“

Diskussion: 1968 – Worauf wir stolz sein können, mit Hannes Heer, Gretchen Dutschke, Emily Laquer und Claus Peymann (evtl.) 19.30 Uhr, Freie Akademie der Kunst, Klosterwall 23, Eintritt frei

Interview David Günther

taz: Herr Heer, was konnten Sie aus der 68er-Bewegung lernen?

Hannes Heer: Ich habe mich zwischen 1963 und 68 aus einer total katholischen Welt befreit. Die Demokratie der BRD war seit ihrer Gründung 1949 ein autoritäres formal-demokratisches System. Der Holocaust und der Vernichtungskrieg im Osten wurden verleugnet, und ein Großteil der Nazi-Eliten kam wieder in Amt und Würden. Ich habe damals gelernt, dass das Bestehende nicht vernünftig ist und nur Kritik einem hilft, autonom zu werden. Das ist die Leitlinie meines Leben geworden.

Was kann die Gesellschaft heute von den 68ern lernen?

Wir müssen das Bestehende als Ausgeburt des Kapitalismus begreifen und dass der Staat als dessen Diener fungiert. Dann erst können wir darüber nachdenken, was wir ändern wollen und können. Das kritische Individuum ist machtlos, Rettung kommt nur, wenn man sich mit Gleichdenkenden verbindet. Die Klima-proteste der SchülerInnen demonstrieren das.

Können die Klimaproteste wie die 68er wirken?

Nein. Das sind isolierte Proteste, die wichtig sind, aber aus denen keine Bewegung mit festen Strukturen wird. Es ist aber eine Bestätigung, dass man nicht schweigen muss, sondern laut werden kann. Und es bilden sich Menschen heraus, die aus den Aktionen Selbstbewusstsein entwickeln und die desaströse Klimapolitik vielleicht als systembedingt erkennen können. Nur aus vielen solchen Strömen kann eine Woge wie die von 68 entstehen.

Wie groß ist die Gefahr, dass rechte Parteien die gesellschaftlichen Errungenschaften von 68 zurückschrauben?

Die Erfolge, die wir erreicht haben, sind nicht unveränderbar. Der Nazi-Untergrund ist nach oben gekommen und hat seinen legalen Arm im Parlament bekommen. Das ist eine Niederlage.

Foto: Horst Rudel

Hannes Heer, Jg. 1941, Historiker, Dramaturg und ehemaliger Leiter der Wehrmachtsausstellung.

Was meint Dutschke mit dem Satz „Ohne radikale Selbstkritik gibt es keine radikale Kritik der Verhältnisse“?

Ein Mensch ist immer von der Gesellschaft, in der er aufwächst, geprägt. Man muss wissen wer man ist, bevor man von sich und anderen etwas fordert. Ohne die Selbstkritik wird jede Bewegung scheitern, denn Menschen orientieren sich an Vorbildern und die überzeugen nur, wenn sie glaubwürdig sind.

Was ist Ihre Selbstkritik?

Es hat auch bei mir lange gedauert, bis ich wusste, welche Nazi-Erbschaften ich mitbekommen habe oder bis ich den Wert der Demokratie verstanden habe –nicht als endgültige Form, aber als eine Form von absoluter Gedanken- und begrenzter Handlungsfreiheit. Wir haben früher gedacht, dass die Demokratie grundsätzlich scheiße ist.