Gewerkschafterin über inklusive Arbeit: „Zeigen, dass wir es ernst meinen“

Gewerkschafterin Annelie Buntenbach sieht nach zehn Jahren UN-Behindertenrechtskonvention kaum Fortschritte. Sie fordert mehr Druck.

Ein junger Mann im Rollstuhl in einer Tischlerei bei der Arbeit

David Völzmann bei seiner Tischlerausbildung: Die UN-BRK fordert einen inklusiven Arbeitsmarkt Foto: Andi Weiland/Gesellschaftsbilder.de

taz: Frau Buntenbach, seit zehn Jahren, seit dem 26. März 2009, gilt in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Das Deutsche Institut für Menschenrechte, das die Einhaltung überwachen sollte, veröffentlichte in der vergangenen Woche eine recht betrübliche Bilanz. Wie fällt denn Ihre für den Bereich Arbeitswelt aus?

Annelie Buntenbach: Leider auch nicht anders als mau. Es gibt kleine Fortschritte bei der inklusiven Ausbildung und beim Anteil schwerbehinderter Menschen in Unternehmen und Verwaltung. Aber wenn man sieht, dass gleichzeitig schwerbehinderte Menschen seltener in Arbeitsmarktmaßnahmen gefördert werden als noch vor Unterzeichnung der Konvention und die Arbeitslosenquote von schwerbehinderten Menschen deutlich hinter der allgemeinen Entwicklung hinterherhinkt, dann sind das einfach schlechte Nachrichten. Gerade der erste Arbeitsmarkt ist bei Weitem nicht inklusiv.

Stattdessen arbeiten inzwischen sogar mehr Menschen in Behindertenwerkstätten als noch vor 10 Jahren. Gemäß UN-Behindertenrechtskonvention müssten diese Sonderstrukturen aufgelöst werden. Das Deutsche Institut für Menschenrechte fordert auf dem Weg dahin die schrittweise Anpassung an reguläre sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse. Das müsste doch im Sinne der Gewerkschaften sein oder?

Ich sehe das kritisch. Wir brauchen die Werkstätten weiterhin, das ist eine wichtige sozialpolitische Maßnahme, um nicht erwerbsfähigen Menschen eine Beschäftigung zu ermöglichen. Entscheidend ist, dass Menschen da nicht auf Dauer stecken bleiben. Aus den Werkstätten müssen viel mehr Brücken in reguläre Arbeit gebaut werden, das klappt leider immer noch viel zu selten.

Unternehmen mit 20 und mehr MitarbeiterInnen sind gesetzlich verpflichtet, fünf Prozent Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen. In der Privatwirtschaft erreicht ein Großteil der beschäftigungspflichtigen Unternehmen diese Quote nicht, ein Viertel beschäftigt sogar keinen einzigen schwerbehinderten Menschen. Sie zahlen lieber die Ausgleichsabgabe zwischen 125 und 320 Euro je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz. Der DGB fordert diese Strafzahlungen auf bis zu 750 Euro zu erhöhen.

Die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen hat sich zwar in den vergangenen zehn Jahren deutlich auf 11,7 Prozent verbessert, mit der allgemeinen Entwicklung kann sie aber nicht mithalten (7,2 Prozent). Zudem sind schwerbehinderte Menschen überwiegend langzeitarbeitslos. Außerdem arbeiten über 270.000 Menschen in Behindertenwerkstätten, 15 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Für viele Menschen mit Schwerbehinderung ist dies die einzige Option auf Beschäftigung, ein Übergang in den regulären Arbeitsmarkt ist derzeit auf wenige Einzelfälle beschränkt.

Aber in den Werkstätten bekommen Menschen in der Regel keine 200 Euro für ihre Arbeit. Ist das mit dem gewerkschaftlichen Grundsatz der guten Arbeit vereinbar?

So sehr mir als Gewerkschafterin die Einführung des Mindestlohns als generelle Untergrenze plausibel erscheint – bei den Werkstätten wäre der Schaden zu groß. Wenn man den Mindestlohn dort einführt und damit reguläre Arbeitsverhältnisse vergleichbar zum ersten Arbeitsmarkt schafft, dann kommt es auch in den Werkstätten zu einem Auswahlprozess bei den Arbeitskräften, bei dem Schwächere auf der Strecke zu bleiben drohen. Im Moment stehen die Werkstätten allen offen und sind damit ein Schutzraum, auf den viele angewiesen sind.

Aber wie soll denn der Übergang in den ersten Arbeitsmarkt gelingen? Vor allem bei den privaten Unternehmen hat sich die Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen in den vergangenen zehn Jahren quasi gar nicht verbessert.

Das stimmt und es kann nicht sein, dass nach wie vor so viele Unternehmen entweder gar keine schwerbehinderten Arbeitnehmer einstellen oder nicht so viele, wie ihnen die Quote vorgibt. Da stehlen sich die Arbeitgeber immer noch regelmäßig aus ihrer Verantwortung. Wir schlagen vor, dass die Ausgleichsabgabe, die sie zahlen müssen, wenn sie keine oder nur wenige Menschen mit Behinderungen einstellen, so deutlich erhöht wird, dass sie nicht mehr aus der Portokasse bezahlt werden kann, sondern einen realen Impuls für Beschäftigung setzt. Wir müssen zeigen, dass wir es ernst meinen.

Jahrgang 1955, ist seit 2006 Teil des Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) und dort vor allem zuständig für Arbeitsmarktpolitik.

Also mehr Strafe statt auf Einsicht hoffen?

Für Einsicht ist es nie zu spät, aber gehofft und gewartet wurde ja lange genug, es ist längst Zeit für ein wirksames Instrument. Aber das ist nur das eine. Zum anderen müssen wir die Unterstützungsleistungen deutlich intensivieren – in der Ausbildung und beim Übergang in den ersten Arbeitsmarkt, auch aus den Behindertenwerkstätten. Das „Budget für Arbeit“, das es seit vergangenem Jahr gibt, kann da ein wichtiger Schritt sein. Es bleibt abzuwarten, wie praxistauglich das ist.

Vor zehn Jahren kannte außer WissenschaftlerInnen wohl kein Mensch den Begriff der Inklusion. Wie ist heute die Reaktion in den Betrieben?

Das hat sich gut entwickelt. Das liegt vor allem daran, dass die Schwerbehindertenvertreter in den Betrieben einfach einen guten Job machen und im Zuge des Bundesteilhabegesetzes noch einmal mit mehr Rechten ausgestattet wurden, die ihnen mehr Gewicht und Anerkennung verschaffen – zum Beispiel bei der Freistellung und bei Fortbildung der Schwerbehindertenvertretungen. Es gibt auch noch einen zweiten Punkt, der mehr ins Bewusstsein gerückt ist: Viele der Beeinträchtigungen sind ja nicht angeboren, sondern werden zum Beispiel durch Arbeit verursacht. Das gilt oft auch für psychische Erkrankungen. Die Diskussion darüber, was passieren muss, um Arbeitnehmer vor Druck, Stress und anderen psychischen Belastungen zu schützen und dauerhaftes Ausscheiden zu vermeiden, wird heute in den Betrieben viel intensiver geführt.

Wie steht es denn um die Inklusion bei den Gewerkschaften selbst – wie präsent sind Menschen mit Behinderungen bei Ihnen?

Es gibt bereits große und sehr aktive Arbeitskreise der Menschen mit Behinderungen in den Gewerkschaften. Doch gerade angesichts der Alterung der Gesellschaft wird es noch offensichtlicher, dass Arbeitsmarkt und Gesellschaft endlich inklusiver werden müssen und auch die Gewerkschaften hier gefordert sind: in der Interessenvertretung im Betrieb und in der eigenen Organisation.

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