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Zu leichtfertig eingesperrt

Untersuchungshaft werde in Deutschland leichtfertig verhängt, beklagt eine juristische Studie. Schon die Grundannahmen vieler richterlichen Entscheidungen seien nicht haltbar

Träumt von Freiheit und Freispruch: Untersuchungs- Häftling Foto: Bernd Thissen/dpa

Von André Zuschlag

Freiheitsentzug ist hierzulande der härteste Eingriff, den der Staat gegen seine BürgerInnen vornehmen darf. Auch für die Verhängung der Untersuchungshaft bei dringendem Tatverdacht hängt die Latte hoch. Eigentlich. Doch laut einer neuen Untersuchung zeigt sich jetzt, dass die Hauptannahme für die Begründung von U-Haft wissenschaftlich kaum haltbar ist. Die Juristin Lara Wolf hat in ihrer Doktorarbeit die richterlichen Argumente zur Begründung von Fluchtgefahr untersucht und kommt zu einem vernichtenden Urteil: „Die Entscheidungen beruhen Großteils auf Alltagstheorien, sie folgen richterlicher Intuition, weil die Vorschriften einen großen Entscheidungsspielraum ermöglichen“, sagt Wolf. Und: Die Prognosen würden sich in den allermeisten Fällen nicht bewahrheiten.

Die Verhängung von U-Haft ist zulässig, wenn Verdunkelungsgefahr besteht, Beschuldigte also womöglich Beweise vernichten und Spuren vertuschen könnten. Weitere Gründe können die besondere Schwere der Tat oder eine mögliche Wiederholungsgefahr sein. In mehr als 90 Prozent der Entscheidungen ist jedoch eine befürchtete Fluchtgefahr der Grund für den Grundrechts-Eingriff. Diese Entscheidungen stellen sich meist als falsch heraus: Fast niemand flüchtet, falls er vorzeitig aus der U-Haft entlassen wird. Das ist zumindest ist das Ergebnis von Wolfs Dissertation.

Die Juristin hat für ihre Studie 169 Entscheidungen von Oberlandesgerichten gesichtet, die Verdächtige wieder aus der U-Haft entlassen haben. In allen Fällen lag es daran, dass die bearbeitenden Behörden gegen den Beschleunigungsgrundsatz verstoßen haben, sodass die Verdächtigen vorerst freigelassen werden mussten. Nur in besonderen Ausnahmen dürfen Verdächtige länger als sechs Monate in U-Haft einsitzen. Tatsächlich sind nur acht Prozent der Untersuchten geflohen – obwohl zu diesem Zeitpunkt das Oberlandesgericht die Fluchtgefahr bejahte.

Während RichterInnen also eine hohe Fluchtgefahr sehen, zeigt die Realität das Gegenteil. Dabei sollte der Grund für die geringe Fluchtzahl den RichterInnen einleuchten: „Flucht lohnt sich einfach nicht“, sagt Wolf. Nur wer gar keine Bindung in Deutschland hat, versuche sich der Strafverfolgung zu entziehen. Und das seien wenige.

Eine vorherrschende Annahme der RichterInnen sei, dass Beschuldigte bei der Androhung von hohen Strafen eher fliehen würden, wohingegen die Fluchtgefahr bei Geständigen gering sei. Wissenschaftlich ließe sich das aber nicht halten, so Wolf – so wenig wie die Annahme, dass Drogenabhängigkeit eher fluchtbegünstigend sei.

„Letztlich lässt sich Fluchtgefahr immer begründen“, sagt Wolf. Dies zeigt sich an der finanziellen Situation der Beschuldigten. Während manche RichterInnen argumentieren, dass wohlhabende Personen nicht fliehen, weil sie ihre finanzielle Situation aufs Spiel setzen, kommen andere zum genau gegenteiligen Ergebnis und meinen, wer das Geld habe, könne sich die Flucht leisten.

RichterInnen beklagen wachsenden Aufwand

Darüber hinaus zeigt die Studie, wie leichtfertig U-Haft verhängt wird: In 42 Prozent der untersuchten Fälle erhielten die Beschuldigten später einen Freispruch, eine geringe Geldstrafe oder ihr Verfahren wurde eingestellt. Zugleich sitzen aber jährlich 25.000 Personen in U-Haft. Diese hohe Zahl sorgt wiederum dafür, dass Verdächtige freigelassen werden müssen, weil die Strafverfahren zu lange dauern. Die Gerichte sind überlastet – oder arbeiten zu langsam. So musste etwa der ehemalige NPD-Politiker Maik Schneider aus der Haft entlassen werden. Ihm wird ein Brandanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft vorgeworfen. In Bremen mussten 2017 fünf dringend Tatverdächtige entlassen werden. Bundesweit zeigen Zahlen aus dem Jahr 2017 einen Anstieg solcher Fälle.

Der Deutsche Richterbund beklagt den wachsenden Aufwand der Verfahren – es sammle sich immer mehr Datenmaterial an, das auch ausgewertet werden müsse. Zugleich gebe es einen riesigen Personalmangel. Durch anstehende Pensionierungen drohe sich die Lage weiter zu verschlimmern. Nach Angaben des Richterbundes gehen in den nächsten 15 Jahren etwa 40 Prozent aller RichterInnen und StaatsanwältInnen in Bund und Ländern in den Ruhestand.

Dabei ließe sich die hohe Zahl unbegründeter Fluchtgefahr verringern, indem RichterInnen eine umfassendere Entscheidungsgrundlage erhielten, meint Wolf. Sie schlägt vor, dass die StrafermittlerInnen in jedem Fall einen Fragebogen über die Tatverdächtigen ausfüllen sollen, der Anhaltspunkte zur Beurteilung der Fluchtgefahr liefert. Auch eine systematische Rückmeldung, ob sich die postulierte Fluchtgefahr bestätigt, wäre ein Ansatz, ohne dass dafür gesetzliche Bestimmungen geändert werden müssten. Denn üblicherweise erfahren RichterInnen im Nachgang nur davon, wenn sie eine Person nicht in U-Haft gesteckt haben und diese dann geflohen ist.

„Am Ende kann die Fluchtgefahr mit einer Kosten-Nutzen-Rechnung relativ sicher bestimmt werden“, sagt Wolf. Als Kosten ist der Verlust zu verstehen, den Flüchtige durch ihr Untertauchen in Kauf nehmen, also etwa der Verlust von sozialen Bindungen, Vermögen oder des Jobs. Ihr Nutzen ist der Freiheitsgewinn, der durch Ressourcen wie zum Beispiel ein eventuell vorhandenes Vermögen im Ausland gesteigert werden kann.

Ein drittes Ergebnis der Untersuchung hebt die Diskriminierung von Nicht-Privilegierten und Nicht-Deutschen hervor: „Der Anteil von Obdachlosen und Nicht-Deutschen in der Untersuchungshaft ist erschreckend hoch“, sagt Wolf. Dass Obdachlose eher flüchten würden, hat sich in der Studie als falsch herausgestellt. Ähnliches gilt für Verdächtige mit ausländischen Wurzeln: „Nur weil jemand entfernte Verwandtschaft im Ausland hat, verschwindet er deswegen nicht zwingend“, sagt Wolf. Lediglich bei jenen, die völlig ohne soziale Bindung in Deutschland sind, ist die Fluchtgefahr wirklich höher. Ob Tatverdächtige in U-Haft kommen, ist demnach auch eine Frage des sozialen Status und der Nationalität.

Dabei verstoße letzteres insbesondere bei Verdächtigen aus dem EU-Ausland gegen geltendes EU-Recht. Das Gleichbehandlungsgebot fordere die staatlichen Institutionen dazu auf, alle EU-BürgerInnen gleich zu behandeln. „Tatsächlich beachtet die deutsche Rechtsprechung dies kaum“, sagt Wolf. Dabei ist die Gefahr, dass Verdächtige im EU-Ausland erfolgreich untertauchen, gering: Die gemeinsame Strafverfolgung, Auslieferung und Rechtshilfe und der Europäische Haftbefehl führen dazu, dass die Strafverfolgung in der ganzen EU mittlerweile ähnlich effektiv ist wie in Deutschland.

Dabei gilt bei allen Verdächtigen die Unschuldsvermutung. Auch eine kurze Zeit in U-Haft kann schon zum Verlust des sozialen Umfelds und des Jobs führen und hat bei den meisten auch psychische Folgen.

Diskussion „U-Haft auf dem Prüfstand“ mit Lara Wolf: Di, 9. 4., 19 Uhr, Wall-Saal, Bremen