Angriff auf die Vernunft

SCHWINDELANFÄLLE Clemens J. Setz erkundet in „Indigo“ das Abgründige und Unheimliche hinter dem empirisch Erfahrbaren

Erzählerisch betritt Setz Neuland; wenigstens in der Komposition zur Collage, zum Rätsel

VON EVA BEHRENDT

Das Inhaltsverzeichnis ist handgeschrieben: ein hastig zu Papier gebrachter Leitfaden durch eine Akte, die unterschiedlichste Textmaterialien versammelt. Auszüge aus Fachbüchern und literarischen Quellen, ein Brief und ein Krankenhausprotokoll, vor allem aber die Aufzeichnungen eines gewissen Clemens Setz wurden hier in eine geheimnisvolle Ordnung gebracht. Dieser Clemens Setz hat Mathematik studiert und auch unterrichtet, zum Beispiel während eines Praktikums am Internat Helianau in der Steiermark – ein Institut, in dem sogenannte Indigo-Kinder beschult werden.

Diese Kinder rufen von Geburt an bei Menschen, die ihre räumliche Nähe teilen, schwere Krankheitssymptome hervor – von Kopfschmerzen und Erbrechen über bodenlose Schwindelanfälle bis hin zum Erblinden. Doch neben seiner Lehrtätigkeit hegt Setz auch schriftstellerische Ambitionen, und je länger man sich in der Akte „Indigo“ festliest, desto mehr erhärtet sich der Verdacht, dass auch die Berichte, die ein unbekannter Erzähler über den Maler und Ex-Helianau-Zögling Robert Tätzel verfasst hat, auf Setz zurückgehen.

Es ist ein vertracktes Spiel nicht nur mit Realität und Fiktion, sondern auch mit der menschlichen Vernunft, das der 1982 geborene Grazer Autor Clemens J. Setz inszeniert. Auch der reale Setz hat Mathematik studiert; viele Quellen und Motive, etwa Berichte über Tierversuche, wirken wissenschaftlich seriös. Und doch geht es Setz weniger darum, den Anschein des Realen zu erzeugen, als dadurch eine (dann doch merkwürdig reale) Atmosphäre des Unheimlichen zu erschaffen. Ein Labyrinth, in dem der Leser immer wieder glaubt, verstanden und den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, um am Ende in einer neuen Sackgasse gelandet zu sein.

Dabei könnte die vielleicht auch nur genial erfundene Kalendergeschichte „Die Jüttnerin von Bonndorf“ von Johan Peter Hebel eine Schlüsselrolle spielen. Zum einen wird darin die Geschichte einer Mutter erzählt, die sich im Jahr 1811 vor dem eigenen, anscheinend durch kosmische Einflüsse veränderten Kind zu fürchten beginnt. Zum anderen stellt Setz sich damit in die Tradition des romantischen Projekts, hinter dem empirisch Erfahrbaren das Abgründige und Abweichende zu erkennen. Die Indigo-Kinder, deren Existenz außerhalb des Romans nur in Esoterik-Foren diskutiert wird, sind dafür die ideale Metapher: Wer durch sein Auf-der-Welt-Sein den anderen und selbst seinen Liebsten schadet, muss der einsamste Mensch auf der Welt sein.

Im Roman ist die schädliche Wirkung der Indigo-Kinder, abfällig „Dingos“ genannt, auf Kindheit und Jugend beschränkt, führt aber auch später noch zu Diskriminierung. Der Spannungsbogen, der den Roman zusammenhält, setzt allerdings dort ein, wo der Autor den Verdacht sät, dass die Kinder als Folterinstrumente missbraucht werden. Lehrer Setz, der panische Angst vor gequälten Tieren hat, beobachtet während seiner Zeit am Internat, dass Schüler abgeholt und „reloziert“ werden – was genau sich dahinter verbirgt, versucht er nach seiner Entlassung in Recherchen und Gesprächen herauszufinden.

Weil Clemens Setz immer neue Erkenntnisköder auslegt, folgt man ihm auch über ausufernde Dialogpassagen bis tief in die inneren Welten und Zwangsvorstellungen seiner Protagonisten. Sei es dem vom Aufkärungswunsch getriebenen Mathelehrer, der über seinen Nachforschungen langsam den Verstand verliert und sogar unter Verdacht steht, einen Menschen bei lebendigem Leib gehäutet zu haben. Sei es dem traumatisierten Ex-Dingo Robert Tätzel, der seine Lebensgefährtin Cordula wohl auch deshalb an seinen Freund Willi verliert, weil er sich und den anderen die Liebe nicht zutraut. Lange Zeit laufen Ich-Erzähler Setz und Robert Tätzel im Wechsel nebeneinander her. Wenn sie sich am Ende begegnen, sind beide schon so ver-rückt, dass es sich auch um Doppelgänger handeln könnte, um zwei Ausprägungen derselben ideosynkratischen Figur. Noch so ein romantisches Motiv.

Auch wenn dieser Bezugsrahmen historisch ist: Erzählerisch betritt Setz Neuland; vielleicht weniger in den Texten selbst als in ihrer Komposition zur Collage, zum Rätsel, dessen Lösung er fortwährend aufschiebt. „Indigo“ verursacht übrigens bei fortschreitender Lektüre leichte Kopfschmerzen und heftigen Schwindel. Dass sein Text sogar den Körper der Leser erfasst, infiziert, angreift – das ist vermutlich das größte Kompliment, das man Setz machen kann.

Clemens J. Setz: „Indigo“. Suhrkamp, Berlin 2012, 479 Seiten, 22,95 Euro