Hamburg hat Rückrunde

Hamburgs Fußball-Zweitligisten sind in der Krise. Während St. Pauli vergangene Woche Trainer und Sportchef entließ, droht der HSV, den Aufstieg leichtfertig zu verspielen

Wechsel in der nächsten Saison zum Lokalrivalen: Jeremy Dudziak (FC St. Pauli ), hier im Zweikampf mit Orel Mangala vom HSV Foto: Christian Charisius/dpa

Von Daniel Jovanov

Vor gerade einmal fünf Wochen schien die Welt beim Hamburger SV noch in Ordnung zu sein. Der Zweitligist hatte sich im Stadtderby beim FC St. Pauli klar mit 4:0 durchgesetzt und seinen Fans ein besonders versöhnliches Geschenk für diese Saison überreicht. Die Revanche für das 0:1 vor acht Jahren im heimischen Volksparkstadion, als St. Pauli, damals frisch in die Bundesliga aufgestiegen, noch als der etwas andere Klub im Fußballgeschäft galt, war gelungen.

Mehr noch: Der Rivale hatte dieses Derby auch außerhalb des Platzes verloren und vielerorts an Sympathie eingebüßt. Szenen von explodierenden Leuchtraketen auf den Tribünen und dunkle Rauchwolken über dem Rasen hätten beinahe zu einem Abbruch des Spiels geführt – verursacht von Ultras der Gastgeber, nicht vom Anhang des HSV.

Ein paar Partien später ist von der Derbyeuphorie allerdings nichts mehr übrig. Der vorläufige Tiefpunkt: eine 1:2-Heimniederlage gegen den Abstiegskandidat Magdeburg durch ein Gegentor in letzter Minute. Zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit verspielte der HSV leichtsinnig die Führung und verpasste somit mehrfach, sich im Rennen um die beiden ersten Plätze der Liga von der Konkurrenz abzusetzen. Das Saisonziel Wiederaufstieg mag zwar wegen der ebenso strauchelnden Mitstreiter Union Berlin oder SC Paderborn nicht in akuter Gefahr sein – das Vertrauen der Fans hingegen schon.

Sie haben genug gesehen von einer Mannschaft, die offenbar nur in den vermeintlich „großen“ Spielen auf den Punkt fokussiert ist. Und nicht einmal der Einzug ins Pokalhalbfinale gegen RB Leipzig sorgt für Besänftigung. Wie will dieses Team gegen einen Champions-League-Aspiranten bestehen, wenn es sogar in der Zweiten Bundesliga gegen auf dem Papier deutlich schwächere Mannschaften regelmäßig enttäuscht?

Daran hat auch der Trainerwechsel von Christian Titz zu Hannes Wolf wenig verändert. Sportvorstand Ralf Becker rechtfertigte den unpopulären Wechsel im vergangenen Herbst mit der Begründung, dass das Erreichen des Saisonziels Wiederaufstieg in Gefahr sei. Tatsächlich gelang es seiner Neuverpflichtung Wolf, die Mannschaft zu stabilisieren und bis zur Winterpause viele wichtige Punkte einzufahren.

Überzeugend waren die Auftritte aber selten; schon gar nicht über mehrere Spiele in Folge. Dem HSV reichte bisher Minimalismus, um sich irgendwie durch die Saison zu wursteln. Seit dem Jahreswechsel stimmen jedoch auch die Resultate nicht mehr. Mit nur 14 Punkten aus elf Partien belegt der HSV den elften Rang der Rückrundentabelle. Der Fußball ist auch nicht wesentlich besser geworden – im Gegenteil.

Von Maro Carini

Der Status Quo: Eine „lethargische Stimmung“, so als ob es um den Abstieg und nicht um einen möglichen Aufstieg ginge, machte Präsident Oka Göttlich „in und um den Verein“ herum vergangene Woche aus. Dem Team warf er Angsthasenfußball vor: Es spiele, als wolle es „nur nicht verlieren, aber nicht, als wolle es unbedingt gewinnen“. Tatsächlich überließ die Mannschaft in dieser Saison selbst bei Heimspielen meist dem Gegner die Initiative.

Die Folge: Nach nur einem Punkt aus den letzten vier Spielen, bei zwei deftigen 0:4-Niederlagen, verlor die Mannschaft den Anschluss zur Tabellenspitze – Trainer Markus Kauczinsky und der bis zuletzt an ihm festhaltende Sportchef Uwe Stöver mussten vergangenen Mittwoch ihren Hut nehmen.

Die Vereinsführung: Personelle Kontinuität hatte Oke Göttlich bei seinem Amtsantritt vor viereinhalb Jahren versprochen und seitdem vier Sportchefs verschlissen. Heute sagt Göttlich: „Wenn ich die Wahl zwischen Kontinuität und Entwicklung habe, wähle ich die Entwicklung.“ Das Problem: Die Trainer und Sportchefs, die Göttlich für diese Entwicklung holte, hatten meist nur eine kurze Halbwertzeit. Die eigenen Fehlentscheidungen mussten korrigiert, das scheidende Personal abgefunden werden. Das kommt den Verein teuer zu stehen und das Geld fehlt für die Verstärkung der Mannschaft.

Trainer weg, Sportchef weg und im September nimmt auch der kaufmännische Direktor, Andreas Rettig, der für die nächsten Wochen übergangsweise auch als Sportchef fungiert, den Hut. Niemand weiß, wer Ende des Jahres bei St. Pauli am Ruder ist. Das erschwert die Kaderzusammenstellung für die neue Saison und jede mittelfristige Planung.

Die Fans: Das vielbeschworene Freudenhaus existiert nicht mehr, die Fans sind mit sich selbst beschäftigt. Pyro-Dauerbeschuss, der fast zum Abbruch des Stadtderbys gegen den HSV führte, und beleidigende Transparente gegen Jeremy Dudziak, der nach der Saison ausgerechnet zum Stadtrivalen wechselt, haben die Spaltung zwischen einzelnen Blöcken vertieft und eine „Wertediskussion“ unter den Fans ausgelöst. Von Euphorie im Aufstiegskampf ist auf den Tribünen nichts mehr zu spüren.

Die Finanzen: Anders als beim HSV wird auf St. Pauli solide gewirtschaftet und er ist nicht aus finanziellen Gründen dazu verdammt, aufzusteigen. Das neue Stadion wird planmäßig abbezahlt, das Nachwuchsleistungszentrum und das Trainingsgelände der Profis wurden modernisiert. Die finanziellen Planungen fußen fest auf der Zweiten Liga. Trotzdem kann der Club sich keine großen Sprünge erlauben und mit den finanzkräftigen Vereinen der Liga nicht mithalten.

Der Neue: Mit Jos Luhukay hat der Club das erste Mal seit Jahren einen Trainer verpflichtet, der für „Ballbesitzfußball“ und damit eine aktive, offensive Spielweise steht. Doch es wird dauern, bis die Mannschaft das neue Spielsystem wird umsetzen können. Viele Fans reagieren skeptisch auf den Neuen, weil er keinen Stallgeruch mitbringt, „nicht zu St. Pauli passt“. Ohnehin hat Göttlich aus Sicht vieler Anhänger zu selten verdiente Spieler nach ihrer Karriere an den Verein gebunden und zu oft auf externe personelle Lösungen gesetzt.

Der Neuanfang: In der ersten Halbzeit wirkte St. Paulis Mannschaft verunsichert und war den Gästen in allen Belangen gnadenlos unterlegen. Sie konnte sich glücklich schätzen, nur mit einem 0:1-Rückstand in die Pause zu gehen. Doch in der zweiten Hälfte zeigte das Team am Sonntag gegen Arminia Bielefeld ein anderes Gesicht: Die Hamburger dominierten die Ostwestfalen, zeigten engagierten Fußball und kamen durch Ryo Miyachi (48.) zum schnellen und letztendlich verdienten 1:1-Ausgleich. Zum fünften Mal hintereinander ohne Sieg rutschte das Team dennoch auf Platz sieben ab. Die Mannschaft braucht nun eine Siegesserie, um noch um den Aufstieg in die Bundesliga mitzuspielen.

Eine Ergebniskrise wäre jedoch angesichts zahlreicher Verletzungsprobleme bei wichtigen Stammspielern wie Kapitän Aaron Hunt oder der Unerfahrenheit des jungen Kaders noch irgendwie zu rechtfertigen gewesen. Doch die Fans stören sich vor allem an der Einstellung, mit der die Mannschaft ihre Spiele bestreitet.

„Jeder muss sich in dieser Woche hinterfragen – jeder Einzelne: Investiere ich alles? Bin ich nur auf Höhe im Pokal oder auch, wenn Magdeburg hierherkommt?“, monierte Ersatzkapitän Lewis Holtby nach der 1:2-Pleite in der vergangenen Woche. Fehlt es dieser Mannschaft etwa an der notwendigen Ernsthaftigkeit im Liga-Alltag? Oder kann sie es einfach nicht besser?

Den Hamburger SV nachhaltig auf Kurs zu bringen, ist eine Aufgabe, an der schon viele Trainer gescheitert sind. Hannes Wolf allein wird sie nicht meistern können, dazu bedarf es Unterstützung von oben. Die bekommt er, indem die Bosse ihm eine uneingeschränkte „Jobgarantie“ aussprechen. Sie dürfen sich einen weiteren Trainerwechsel in dieser Saison ohnehin nicht mehr erlauben, weil sie damit selbst ins Zentrum der Kritik rücken würden. Deshalb gilt bis auf Weiteres: Augen zu und durch.