Kommentar Brand in Notre-Dame: Schichten aus Sehnsucht

In der Kathedrale als Symbol verdichten sich Sehnsüchte. Auch deshalb darf man ergriffen sein von den Bildern von Notre-Dame in Flammen.

Notre-Dame nach Brand

Vom Feuer verwüstet: Kathedrale Notre-Dame Foto: reuters

Kathedralen sind Fundamente der Ewigkeit. Deshalb schockiert es, wenn sie, wie jetzt Notre-Dame, brennen. Dabei ist es weniger ihre konkrete Erscheinung, die ewig ist, denn welche Kathedrale tritt uns heute noch in ihrer ursprünglichen Gestalt gegenüber. Und wo überhaupt liegt der Ursprung von Gebäuden, die über mehrere Jahrzehnte, gar über mehrere Jahrhunderte gebaut, verändert und auch immer wieder neu errichtet wurden? Ewig ist nur die Idee der Kathedrale selbst. Ewig ist sie als ein Raum, der der Zeitlichkeit enthoben ist. Unabhängig von den Zeitläufen, von jedem Zufälligen, Beliebigen oder Wirklichen, dem Leben selbst.

Deshalb hat man immer wieder versucht, diese Orte der Ewigkeit in eine politische Raum-Zeit ­hineinzubringen, die Macht, die sie repräsentieren, zu brechen und sich ihrer zu bemächtigen.

Aus der großen Notre-Dame sollte während der Französischen Revolution ein „Tempel der Vernunft und der Freiheit“ werden und an jedem zehnten Tag des neuen Revolutionskalenders das Fest der Vernunft begangen werden. Denn die Vernunft, aber eben auch die Feste und sogar die Märkte, sie erheben Einspruch gegen das Ewige.

Metapher für die Unvernunft

Doch das Profane verheißt nicht nur Freiheit, was auch dem französischen Schriftsteller Émile Zola deutlich vor Augen stand, der das erste Warenhaus der Geschichte, Le Bon Marché in Paris, im 19. Jahrhundert nicht zufällig als „Kathedrale des neuzeitlichen Handels“ beschrieb und die Kathedrale als Metapher für die Unvernunft setzte.

Ganz anders als die ihm vorausgehenden Romantiker, denen die gotischen Kathedralen als Symbol einer verloren gegangenen einheitlichen Welt galten. Mehr Ideal als tatsächliche Welt also – das ist vielleicht die beste Zusammenfassung für die Wünsche und Sehnsüchte, die sich in der Kathedrale als Symbol verdichten. Sie ist eine Art Supermetapher, was sich auch darin zeigt, dass, wenn in Frankreich von einer „Kathedrale der Liebe“ oder einer „Kathedrale der Poesie“ die Rede ist, von etwas gesprochen werden soll, das dem Gewöhnlichen enthoben ist.

Die Supermetapher ist eine französische Begabung, dort und nicht etwa in Deutschland spricht man von der „Kathedrale Europa“. Aber: Man muss die Dinge erden, um sie in den Griff zu kriegen. Und so muss man sehen, auch der Mittelpunkt Frankreichs, die so unfassbar schöne Notre-Dame, besteht nur aus Schichten, die ihr hinzugefügt wurden. Es gibt sie nicht als authentische.

Man darf ergriffen sein von den Bildern, die sie in Flammen zeigen, das ja. Aber weniger deshalb, weil sie eine Idee verkörpert, sondern weil es ihre Glocken waren, die läuteten, als Paris von den Nazis befreit wurde. Zum Beispiel.

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Redakteurin für das Politische Buch und Kultur. Jurorin des Deutschen Sachbuchpreises 2020-2022 sowie der monatlichen Sachbuch-Bestenliste von ZEIT, ZDF und Deutschlandradio. Lehraufträge in Kulturwissenschaften und Philosophie. Von 2012 bis 2018 Mitglied im Vorstand der taz. Moderiert (theorie-)politische Veranstaltungen. Bevor sie zur taz kam: Studium der Gesellschaftswissenschaften, Philosophie und Psychoanalyse in Frankfurt/Main; Redakteurin und Lektorin in Wien.

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