Kommentar Arbeitszeiterfassung: Stechuhr? Ja, bitte!

Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs müssen Arbeitszeiten künftig komplett erfasst werden. Das stärkt die Rechte der Beschäftigten.

Eine Hand verstellt den Zeiger an einer Uhr, darüber hängen weitere Uhren

Flexibel und ständig erreichbar im Job: Das Erfassen der Arbeitszeit wird immer wichtiger Foto: dpa

Es ist eine sehr gute Nachricht für Beschäftigte, auch wenn viele das auf den ersten Blick nicht so empfinden: Der Europäische Gerichtshof will, dass die EU-Mitgliedsstaaten Arbeitgeber zwingen, Arbeitszeiten von Beschäftigten komplett zu erfassen. Das ist gut, denn es stärkt die ArbeitnehmerInnen.

Die – analoge oder digitale – Stechuhr mag vielen wie ein Kontroll­instrument von ArbeitgeberInnen erscheinen, die sie gängeln wollen. Ja, Arbeitszeiten werden mit einer kompletten Erfassung kontrollierbarer. Aber das ist meistens nicht zugunsten der Unternehmen. Denn die profitieren davon, dass oft im Unklaren bleibt, wie viel ihre Leute ackern. Sie zahlen für nicht nachvollziehbare Mehrarbeit nicht.

Bislang müssen in Deutschland nur Überstunden erfasst werden. Das ist weltfremd. Denn wer listet denn Mehrarbeit auf, wenn die reguläre Arbeit gar nicht erfasst wird? Vielen Menschen ist gar nicht gewusst, wie viel sie ohne Bezahlung arbeiten – weil sie das eben nicht festhalten.

Gerade angesichts der immer stärkeren Verdichtung der Arbeit und der verschwimmenden Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben ist es ein immenser Fortschritt, wenn die gesamte Arbeitszeit erfasst wird. Zuhause E-Mails zu beantworten oder etwas anderes für den Job zu erledigen, ist für viele selbstverständlich. Im Zeitalter der ständigen Erreichbarkeit und flexibler Arbeitszeiten muss es neue Regeln geben. Die Erfassung ist dabei zentral. Ohne akribische Dokumentation werden immer mehr Menschen immer mehr umsonst arbeiten. Im Jahr 2018 wurden in Deutschland mehr als eine Milliarde – nicht Million! – geleistete Überstunden nicht bezahlt. Ein riesiges Geschenk der Beschäftigten an Unternehmen.

Der Europäische Gerichtshof schreibt nicht vor, wie Arbeitszeiten künftig dokumentiert werden sollen. Die Herausforderung besteht darin, Systeme zu finden, bei denen die Beschäftigten die Kontrolle über die Kontrolle haben und die nicht nervtötend sind – und die Unternehmen dazu zu bringen, die heute unsichtbare Arbeit auch vernünftig zu vergüten.

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