Psychologin über Portugal vor EU-Wahl: „Die Krise hat uns entfernt“

Der europäischen Linken gilt Portugal oft als Positivbeispiel. Warum interessiert sich vor der Europawahl dennoch niemand für das Land?

Joana Amaral Dias blickt an der Kamera vorbei

„Ich glaube, die Krisenjahre haben uns von Europa entfernt“, sagt Joana Amaral Dias Foto: Matilde Viegas

taz: Frau Amaral Dias, in Deutschland kommen vor allem positive Nachrichten aus Portugal an. Ist wirklich alles besser?

Amaral Dias: Verglichen mit den Troika-Jahren, geht es uns besser. Aber strukturell hat sich wenig geändert. Die Arbeitslosigkeit ist ein guter Indikator: Es stimmt, dass wir viel weniger Arbeitslose haben als vor drei oder vier Jahren, aber diese Arbeit ist prekär, temporär, wenig qualifiziert und saisonal. Und an den Tourismus gebunden. Das ist instabil.

Ich habe nichts gegen Tourismus, aber fände es besser, wenn wir mehr Industrie hätten, mehr Technologie. In so was wurde nicht investiert. Was fehlt, ist ein Plan. Mit dem Linksblock und den Kommunisten in der Regierung könnte es eine modernere Vision geben, aber bis jetzt ging es nur darum, Löcher zu stopfen.

Was genau stört Sie am Tourismus?

Wir müssen den Tourismus in Portugal besser verteilen, genug Kulturerbe hätten wir ja dafür. Stattdessen konzentriert sich alles auf Lissabon und Porto – das fordert den Städten viele Ressourcen ab. Ich denke da an Sicherheit und Sauberkeit. Außerdem ist Tourismus als Wirtschaftsstrategie ist nicht genug, denn er ist nicht nachhaltig. Es tut mir in der Seele weh zu sehen, dass Ingenieure, Mechaniker oder Krankenschwestern Tuk-Tuks fahren müssen. Wir Portugiesen können mehr als das.

Die zwei Parteien bilden gemeinsam mit den Sozialisten eine Minderheitsregierung unter Premierminister António Costa. Was halten Sie von ihm?

Ein ausgezeichneter Taktiker. Am Wochenende hatten wir eine angebliche politische Krise, das war ein Schachzug, sehr taktisch, sehr hinterhältig.

Die Konservativen forderten Ausgleichszahlungen an Leh­re­r*innen, deren Karriere während der Krise eingefroren worden war – Costa drohte mit Rücktritt.

So was interessiert mich nicht; das ist Zeitverschwendung. Und es entfernt die Leute von der Politik. Es gibt niemanden, der zum Mikrofon greift und sagt: Ich will aus Portugal ein Land machen, das sich berufen fühlt für … Es könnte auch etwas sein, dem ich nicht zustimme, aus der Diskussion erwächst Licht. Wir haben keine Diskussion, wir haben Klubs. Leute sagen: Ich gehöre zum Klub von António Costa, ich gehöre zum Klub von Bloco. Die Europawahlen stehen vor der Tür, und wir verlieren Zeit damit, über Quatsch zu reden.

Wo werden Sie Ihr Kreuz machen?

Ich werde eine kleine Nachricht auf meinen Wahlzettel schrei­ben, aber kein Kreuz machen. Ich fühle mich von keiner Partei repräsentiert, aber ich will mein Recht, zu wählen, wahrnehmen. 70 Prozent der Bevölkerung werden voraussichtlich nicht wählen – wenn das kein Warnsignal ist. 70 Prozent! Sind diese Wahlen gültig? Und der Großteil von denen, die wählen gehen, ist alt, oder es sind Leute, die schon konvertiert sind, Militante, Funktionäre.

Zu den 30 Prozent Wählern zählen auch die, die nichts ankreuzen – so wie ich. Was bleibt übrig? Dass sich die Politiker nicht um die 70 Prozent der Nichtwähler scheren, ist für mich ein Symptom dafür, wie schlecht es um die Demokratie steht.

Wie steht es um die Beziehung zwischen Portugal und Europa?

Joana Amaral Dias ist Publizistin, Psychologin und gehörte dem Linksblock an. Als unabhängige Abgeordnete saß sie von 2002 bis 2005 im portugiesischen Parlament. Sie kommentiert die Politik Portugals auf Social Media, im Fernsehen und in der Boulevardzeitung Correio da Manhã.

Sie hat sich seit der Krise verändert. Unser Finanzminister Mario Centeno ist jetzt Chef der Eurogruppe. Es gibt ein neues Narrativ: Politik ist nicht nur das, was man macht, sondern auch das, wovon man sagt, dass man es tut. Viele Restriktionen aus den Zeiten der Troika sind geblieben. Der Unterschied ist, dass der vorherige Premier immer gesagt hat, dass wir verdienen, bestraft zu werden. Der jetzige sagt, dass wir nicht bestraft werden sollten. Wenn sich die Perspektive ändert, ändert sich alles.

Trotzdem gibt es viele Portugiesen, die nichts von Europa wissen wollen. Viele glauben, dass die EU nicht demo­kratisch ist, dass es nichts bringt, die Abgeordneten für das Europäische Parlament zu wählen, dass die Europawahl keinen Einfluss auf ihr Leben hat, weil unabhängig davon Institutionen wie die Troika kommen können, die von niemandem gewählt wurden und das letzte Wort bei großen Entscheidungen haben.

Hat die Troika ein Trauma hinterlassen?

Ich glaube, die Krisenjahre haben uns von Europa entfernt, auch von Deutschland. Es gab auf beiden Seiten Propaganda, die mal berechtigt, mal grotesk war. Ich war damals in Deutschland, da sprach man von PIG-Staaten [Portugal, Italien, Irland, Griechenland; Anm. d. Red.]. Und hier hieß es, die Deutschen seien Faschisten, die die Völker des Südens unterdrücken wollen. Diese Propaganda hat denen geholfen, die von Hass und Spaltung profitieren. Das war nicht gut für die europäische Identität, es hat Europa verletzt.

Portugal ist eines der wenigen Länder in Europa, das keine starke rechtsextreme Bewegung hat. Warum ist das so?

In der Psychoanalyse sagt man: Es gibt Gedanken, die nur noch nach jemandem suchen, der sie denkt. Ich glaube, so ähnlich ist es mit den Rechtsextremen in Portugal. Der Virus ist da, er sucht nur den Träger. Und die Krise hat hier ein ideales Klima für Rechte geschaffen. Einige sind besorgt wegen Chega, der neuen rechten Partei. Aber ich finde, sie geben ihr eine Relevanz, die sie nicht verdient. Ich finde, wir sollten die Partei überhaupt nicht beachten.

Portugal hat es mit einer linken Politik aus der Krise geschafft, das ist die Erzählung. Stimmt sie?

Montags, mittwochs und freitags arbeitet die Regierung für das Volk, am Dienstag, Donnerstag und Samstag für die Bank. Ein großes Problem der letzten Regierungen war die Rettung unserer Banken, in die wir viele Milliarden Euro gepumpt haben. Das ist für das portugiesische BIP ein Wahnsinn. Es hat nie an Geld gemangelt, um Privatpersonen, Unternehmer, Kriminelle zu retten.

Es ist schwierig, einem Portugiesen zu erklären, warum dafür Geld da war, aber nicht für das Gesundheitssystem oder für eine angemessene Bezahlung. Mit einem Mindestlohn von 600 Euro ist es schwierig, ein würdevolles Leben zu führen. Es wird aber weiter Geld in die Banken gepumpt, auch von der aktuellen Regierung. Für die Arbeiter hat sie auch etwas getan und ihnen minimale Rechte gegeben, das ist wie die Gischt auf einer Welle.

Welche Rolle spielen die Kommunisten und der Linksblock in der Regierung?

Die einer Blume im Revers, Deko. Sie sollen den Eindruck vermitteln, dass die Regierung linker ist, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Das erste Jahr war nicht schlecht. Der Bloco und die Kommunisten haben fast alles erreicht, was geplant war: Renten wurden erhöht, finanzielle Unterstützung wurde wieder eingeführt, die Arbeitslosigkeit bekämpft. Es wirkt, als sei das viel; im Vergleich zum europäischen Durchschnitt ist es wenig.

Ist die Krise also doch nicht vorbei?

Nein, um sie zu beenden, bräuchten wir mehr wettbewerbsfähige Wirtschaftszweige, haben wir aber nicht. Mit der EU haben wir die Textilindustrie so gut wie verloren. Jetzt wird vor allem auf Tourismus gesetzt, aber was ist, wenn die Fluglinien ihre Routen ändern? Wir kontrollieren das nicht. Wir kontrollieren auch eine Mikrochipfirma nicht, aber schon etwas mehr, oder? Wenn wir diese strukturellen Veränderungen nicht machen, ist es sicher, dass eine Krise kommen wird. Und noch eine und noch eine.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.