Wir sind einBerliner

Berlin wird immer internationaler. Vor der EU-Wahl haben wir fünf europäische Wahl-Berliner*innen gefragt, was ihnen die EU bedeutet, ob sie wählen und was sie überhaupt in Berlin wollen

Abb: wikimedia

Interviews und Fotos Joana Nietfeld

Kristian Pålshaugen, 40, Norwegen

taz: Herr Pålshaugen, Sie sind vor neun Jahren nach Berlin gezogen. Warum?

Kristian Pålshaugen: Für mich ging es mehr darum, Norwegen zu verlassen, als nach Berlin zu ziehen. Ich wohnte zehn Jahre lang in Oslo, habe dort viel Musik gemacht und hatte irgendwann das Gefühl, dass ich weg muss. Ich habe nie eine lange Asienreise oder ein Erasmus-Semester gemacht und wollte etwas Neues entdecken.

Was haben Sie woanders gesucht, was Sie in Norwegen nicht gefunden haben?

Ich wollte unbedingt in eine größere Stadt – Norwegen und Oslo fühlten sich sehr klein an. An Berlin mag ich, wie unkonventionell es ist. Man kann hier antizyklisch leben, das geht in Oslo nicht. Ich habe zum Beispiel einen Bekannten: Er ist ein relativ langweiliger Typ mit einem ganz normalen Job und einer Familie. Aber er liebt Technomusik und stellt sich manchmal nachts einen Wecker, nur um einen bestimmten DJ zu sehen. Ich lebe so ähnlich: Ich liebe es, mich nicht den konventionellen Tagesabläufen anpassen zu müssen.

Als Norweger sind Sie kein EU-Bürger, wie war der Start in Berlin?

Norwegen ist Teil des Europäischen Wirtschaftsraums – es gibt also kein Problem für uns nach Deutschland zu kommen und hier zu arbeiten. Mit Freunden habe ich eines Abends einen verlassenen Raum mit Leinwand gefunden. Wir hatten die verrückte Idee, dort ein Kino reinzubauen. Damals konnte man das zu einem bezahlbaren Preis einfach anmieten. Heute bin ich Kinobetreiber.

Bedauern Sie, bei der EU-Wahl nicht teilnehmen zu dürfen?

Ich bin mir nicht so sicher. In Norwegen ist die Linke sehr EU-kritisch eingestellt. Sie halten die EU für zu groß und undemokratisch. Ich bin in einem linken Haushalt aufgewachsen und daher sehr EU-kritisch erzogen worden.

Hat das Leben in Berlin etwas an Ihrer Einstellung verändert?

Ich fühle mich hier auch als Teil der europäischen Community. Ich glaube, so geht es vielen Norwegern. Für mich gibt es mehrere Ebenen der Identität: Manchmal ist man Europäer, manchmal Deutscher und manchmal Berliner. Das Schöne ist, dass es mir eigentlich egal ist. Ich brauche nicht zu definieren, ob ich Norweger, Deutscher, Europäer oder Berliner bin. Hier ist alles im Fluss und so gefällt es mir.

Katja Wolfgang, 26, Niederlande

taz: Frau Wolfgang, Sie sind vor zwei Wochen nach Berlin gezogen, warum?

Katja Wolfgang: Ich liebe es einfach. Ich habe immer schon elektronische Musik gemocht und wegen des Brexits wollte ich mir ein neues Ziel suchen, denn ich habe in den vergangenen drei Jahren in England gelebt.

Bislang haben Sie keine Wohnung, wie ist es Ihnen hier ansonsten ergangen?

Ich hätte niemals gedacht, dass es so hart werden würde hier einen Job und eine Wohnung zu finden, dabei war ich schon immer eine Reisende und habe an verschiedenen Orten in Europa gewohnt. Ich finde zwar Notlösungen, wo ich schlafen kann – meistens bei Freunden. Aber eine eigene Wohnung mit vernünftigem Mietverhältnis scheint unmöglich. Aber ich versuche optimistisch zu bleiben.

Was erhoffen Sie sich von Berlin?

Ich will Deutsch lernen, meine kreative Seite weiter ausleben und Musik machen. Ich habe am Dienstag Bewerbungen verschickt und jetzt schon zwei Vorstellungsgespräche. Ich will einen vernünftigen Job, wo ich Sozialabgaben zahle und versichert bin – das ganze Programm. Welchen Job ich dann habe, ist mir eigentlich egal.

Werden Sie an den EU-Wahlen teilnehmen?

Nein.

Aber ist die EU mit ihrem Freizügigkeitsgesetz nicht für Sie als Reisende total wichtig?

Aber mit meinem Pass könnte ich mich doch auch so frei bewegen. Ehrlich gesagt: Ich glaube nicht an die Demokratie, denn die funktioniert nicht mit so vielen Menschen. In kleineren Gesellschaften kann das funktionieren, aber Europa ist zu riesig.

Cédric Gütz, 30, Niederlande

taz: Herr Gütz, Sie sind vor vier Jahren nach Berlin gekommen, warum?

Cédric Gütz: Ich hatte während meines Bachelors in Utrecht bereits ein Semester in Berlin studiert. Mit meiner damaligen italienischen Freundin war ich nach meinem Master auf der Suche nach einem Ort, wo wir uns beide sprachlich und beruflich zurecht finden könnten. Dann war ich bei der Hochzeit eines Freundes in Berlin eingeladen, und habe mir ein Zimmer für einen Monat gemietet. Ich habe hier dann einen Job gefunden und blieb.

Wie sind Sie hier angekommen?

Hierher zu kommen ist relativ leicht als EU-Bürger. Natürlich ist es ein Aufwand, die Sprache zu lernen und die Bürokratie zu verstehen. Aber dank der Freizügigkeit fragt niemand: Was machst du hier überhaupt? Die Jobsuche allerdings gestaltete sich schwieriger. Besonders bei Jobs, auf die sich auch gut ausgebildete Deutsche mit gleichen Voraussetzungen bewerben. Und die englischsprachigen Jobs sind sowieso super begehrt, da hat man riesige Konkurrenz. Ich bin seit einem Jahr als Koordinator eines Integrationsprogramms für Marzahn-Hellersdorf tätig. Als Niederländer in der Berliner Verwaltung zu arbeiten, ist schon lustig.

Werden Sie bei der EU-Wahl wählen?

Ich würde am kommenden Sonntag total gerne wählen und als Niederländer bin ich natürlich wahlberechtigt, aber ich hätte mich vorab registrieren müssen, weil ich in den Niederlanden nicht mehr gemeldet bin, aber auch keine deutsche Staatsbürgerschaft habe. Ich war leider zu spät. Ich habe mich erst vor drei Wochen informiert und da war die Frist schon abgelaufen. Also werde ich nicht wählen. Das finde ich ziemlich traurig.

Aurora Moreno Herrera, 26, Spanien

Frau Moreno Herrera, Sie sind vor knapp zwei Jahren nach Berlin gezogen, warum?

Aurora Moreno Herrero: Ich wollte unbedingt nach Deutschland und habe erst mal ein Erasmus-Semester in Kaiserslautern gemacht. Schon in der Schule habe ich Deutsch gelernt. Ich habe Ingenieurwissenschaften studiert und in Spanien ist bekannt, dass es in Deutschland viele Jobs in diesem Bereich gibt. Ich bin eine sehr strategische Person. Auch wenn es das totale Klischee ist, dass in Deutschland alles sehr strukturiert abläuft habe ich mir gedacht: Vielleicht passe ich besser dort hin.

Und wieso nun Berlin?

Ich hatte so etwas wie eine „Quarterlife-Crisis“, wenn man das so sagen kann. Ich war fertig mit dem Studium, wusste was ich theoretisch tun soll, aber nicht so richtig, was ich wirklich machen will. Da ist Berlin total geil, denn hier gibt es so viele verschiedene Einflüsse, so viele Leute, die etwas bewirken wollen. Alle wollen die Welt verändern. Ich bin auch auf diesem Weg, aber ich habe meinen Platz noch nicht richtig gefunden. Um sich selbst zu finden, ist Berlin super! Bevor ich hierher gekommen bin, hatte ich eine bestimmte Art des Denkens und das wird hier jeden Tag herausgefordert. Ich bin auf viele Dinge aufmerksam geworden, habe viele Ansichten nochmal überdacht. Außerdem kann ich hier einfach sagen, dass ich eine Freundin habe. In Marbella geht das nicht. Na ja, es geht schon, aber ich fühle mich dort damit nicht so wohl. Ich komme aus einer sehr konservativen, katholischen Familie, die noch eine sehr klare Vorstellung davon hat, wie mein Leben aussehen sollte.

Werden Sie bei der EU-Wahl wählen?

Ja, ich habe mich in Deutschland angemeldet, damit ich hier wählen kann. Es ist zwar Europa, aber ich möchte trotzdem lieber für Deutschland wählen. Denn ich will dort wählen, wo ich wohne, damit meine Stimme hier eine wirkt. Und ­natürlich darf ich nicht in zwei Ländern gleichzeitig wählen, sonst ist die Wahl ungültig. Für mich ist die Freizügigkeit in Europa extrem wichtig, deshalb ist die Wahl am Sonntag für mich unverzichtbar.

Sebastian Moler*, 25, Italien

Herr Moler, Sie wohnen seit sechs Monaten in Berlin, warum?

Sebastian Moler: Ich habe in Triente in Südtirol soziale Arbeit studiert. Danach bin ich nach London für einen europäischen Freiwilligendienst gezogen. Ich habe in einer Organisation gearbeitet, in der wir mit marginalisierten Gruppen Zirkusübungen, Tanz und Theater geprobt haben. Mit dem gleichen Programm war ich in Palästina, im Kosovo, in Kurdistan und in Polen. Im letzten Jahr habe ich an einem Projekt zu Grenzen und performativer Straßenkunst in Frankreich teilgenommen. Dort habe ich eine Frau aus Berlin kennengelernt. Daraufhin bin ich im November hierhergekommen. Mein Plan war sie für zwei Wochen zu besuchen – aber jetzt bin ich immer noch hier. Mittlerweile mache ich ein Praktikum bei einem anderen sozialen Zirkusprojekt.

Ihr langer Aufenthalt war also nicht geplant?

Eigentlich wollte ich nach all den Jahren an unterschiedlichen Orten zurück nach Italien. Aber ich dachte, dass ich es nun noch ein letztes Mal wagen könnte, von null anzufangen. Allerdings wäre ich niemals in eine Kleinstadt aufs Land gezogen. Natürlich bin ich in erster Linie wegen meiner Freundin hier, aber gleichzeitig spüre ich, dass Berlin tausend Möglichkeiten bietet. Es gibt hier viele Aktionsfelder, die mich sehr interessieren: soziale Bewegungen, Zirkus und Projekte mit Geflüchteten. Hier geht was. Allerdings waren die Orte, an denen ich bisher gearbeitet habe, und die Menschen, mit denen ich Zeit verbracht habe, ähnlich liberal wie hier.

Sie werden bei der EU-Wahl nicht wählen, weil Sie sich in Berlin nicht registriert haben, bedauern Sie das?

Ich werde am Wochenende nicht nach Italien fahren können, um meine Stimme abzugeben. Ich habe zwar Wahlen immer als den Höhepunkt unserer Demokratie empfunden. Aber mittlerweile glaube ich, dass es vielmehr darum geht, demokratische Entscheidungen an jedem einzelnen Tag zu fällen: Was man isst, tut, anzieht, mit welchen Menschen man zusammen ist – das ist alles Teil des demokratischen Systems. Natürlich ist Wählen ein wichtiges Werkzeug, aber gleichzeitig empfinde ich seine Wirkung als sehr weit entfernt von mir. ­Deshalb bin ich gar nicht so traurig darüber, nicht bei der Europawahl nicht wählen zu können.

*Name geändert