Bayrische Blüten

REGIONALGELD II Der Chiemgauer erhöht die Identifikation mit der Region und hilft gemeinnützigen Organisationen

Der Chiemgauer hat einen Negativzins von 8 Prozent. Wer ihn bekommt, gibt ihn also schnell wieder aus

VON UTE SCHEUB

An der Tür zum „Boden-Schatz“ im oberbayrischen Nussdorf-Mögstetten steht: „Wir nehmen Chiemgauer“. Zenta und Johann Posch verkaufen in ihrem liebevoll eingerichteten Hofladen Demeter-Getreide, Kartoffeln, Käse, Honig, Blumen und mehr. Zenta Bosch nimmt ein paar Scheine aus der Kasse: Es gibt Einer, Zweier, Fünfer, Zehner, Zwanziger und Fünfziger, fälschungssicher gestaltet, mit farbigen Impressionen rund um den Chiemsee auf der Rückseite. Der Handel mit Chiemgauern passt den Poschs gut ins Konzept. Alles, was die beiden seit 2011 hier verkaufen, ist aus der Region und soll in der Region bleiben und sie fördern.

Der Chiemgauer ist im Jahr 2002 aus einem Schülerprojekt entstanden und wurde in kurzer Zeit zum erfolgreichsten Regiogeld Deutschlands, wenn nicht sogar Europas. Sein Umsatz im Dreieck zwischen Wasserburg, Rosenheim und Traunstein beträgt über sechs Millionen Euro jährlich. In 45 Ausgabestellen, darunter Sparkassen und Volks- und Raiffeisenbanken, aber auch Apotheken oder Gärtnereien, können Euro zum Kurs von 1:1 in Chiemgauer umgetauscht werden.

Rund 2.700 regional- und umweltbewusste Verbraucher und Kundinnen machen dabei mit, 240 Vereine sowie 600 Unternehmen, zu denen auch „Boden-Schatz“ gehört; Letztere reichen die eingenommenen Scheine an andere Regiogeschäfte weiter. Das Angebot reicht von A wie Auto und Fahrrad bis zu W wie Wohnen und Einrichten; Schwerpunkte sind Einzelhandel, Lebensmittel, Baubedarf, Gastronomie, Gartenartikel und Dienstleistungen. Es kam schon vor, dass sich eine Handwerkerrechnung auf 36.000 Chiemgauer belief.

Von der Frankfurter Allgemeinen über La Tribune bis zu The Hindu berichteten schon viele Zeitungen über das „kleine Deutschland, das der Eurokrise trotzt“. Die mediale Anziehungskraft hat es mit seinem historischen Vorgängerprojekt gemein: Zeitungsreporter aus aller Welt hatten 1932 staunend über das „Wunder von Wörgl“ berichtet.

Mitten in der Weltwirtschaftskrise fiel den Regierungen damals – ähnlich wie heute – nur „sparen, sparen, sparen“ ein. Doch Michael Unterguggenberger, Bürgermeister der österreichischen 4.000-Seelen-Gemeinde Wörgl, fand das deppert: „Ich schränke mich ein und gehe barfuß. (Hilft das dem Schuster?). Ich schränke mich ein und reise nicht. (Hilft das der Bundesbahn?). Ich schränke mich ein und esse keine Butter. (Hilft das dem Bauern?)“ Der Sozialdemokrat ließ stattdessen im Gemeindeauftrag Straßen und Abwasserrohre bauen; die Arbeiter bezahlte er mit einem Freigeld mit dem Aufdruck: „Lindert die Not, schafft Arbeit und Brot.“

Unterguggenberger hatte sich vom Sozialreformer Silvio Gesell inspirieren lassen, der in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag feiern würde. Weil das Zinssystem wie eine gigantische Umverteilungsmaschine von unten nach oben wirkt, ersann Gesell das „Freigeld“ oder „Schwundgeld“, das an Wert verliert, wenn es nicht ausgegeben wird. Geldhorten oder Spekulieren wird damit unrentabler. Auch die Arbeiter von Wörgl gaben die Freigeld-Gutscheine eifrig in Läden und Bauernhöfen aus, die Erwerbslosigkeit sank, während sie überall sonst weiter stieg. Linke und Rechte feierten den Bürgermeister. Bis die Nationalbank einschritt und juristisch die „Abstellung dieses Unfugs“ durchsetzte. Die Gemeindearbeiter wurden entlassen, das Wunder von Wörgl war vorbei.

Das Wunder vom Chiemsee residiert heute in einem nüchternen Neubau von Rosenheim. Hochgewachsen und schlaksig kommt einem der 39-jähriger Erfinder des Chiemgauer entgegen. Christian Gelleri ließ sich als Jugendlicher von Gesells Buch „Die natürliche Wirtschaftsordnung“ beeinflussen, später wurde er Wirtschaftslehrer in der Waldorfschule Prien. Zusammen mit sechs Schülerinnen wollte er 2002 das Geld für eine neue Sporthalle zusammenkriegen. Ihre Idee: Die Eltern der Schüler versprachen einigen Geschäften, mit einem selbst entwickelten Papiergeld bevorzugt bei ihnen einzukaufen, und die Unternehmen spendeten im Gegenzug einen Teil ihres gesteigerten Umsatzes an die Schule. Anfang 2003 wurden die ersten zweitausend Chiemgauer gedruckt. Seitdem rollt der Regiorubel, heute sogar zwei- bis dreimal schneller als der Euro.

Der Chiemgauer verliert alle drei Monate seinen Wert, wenn man ihm nicht eine klebt – eine Marke aufpappt, die zwei Prozent des Nennwertes kostet. Faktisch hat das Regiogeld deshalb einen Negativzins von jährlich acht Prozent. Die meisten Leute versuchen, diese Prozedur zu vermeiden und geben den Chiemgauer schnell weiter – und genau das ist das Ziel. Denn nur wenn das Geld in einem Wirtschaftskreislauf ständig auf einem hohen Niveau fließt, führt es zu Umsätzen, Arbeitsplätzen und Wohlstand.

Die Deutsche Bundesbank hat den Chiemgauer nicht verboten, weil er offiziell als „vereinsinterner Regio-Gutschein“ gilt. Wer damit einkaufen will, muss vorher in den Regionalgeld-Verein eintreten.

In den Vereinsräumen arbeiten auch Freiberufler, unter ihnen Daniel Wittig. Der 32-Jährige hängte 2011 seinen Physikerjob an den Nagel und zog von Leipzig nach Rosenheim, weil er fasziniert war von der Regiogeld-Idee und „dem erfolgreichsten Kandidaten beim Durchbruch helfen wollte“. Diese Förderung der Regionalwirtschaft könne in Ostdeutschland die Abwanderung stoppen helfen, glaubt er.

Zumal, weil der Chiemgauer quasi im Vorüberrollen auch das Gemeinwohl fördert. Wer sein Regiogeld wieder in Euro zurücktauschen will, kann dies nur gegen eine Gebühr von fünf Prozent tun, erläutert Wittig geduldig. Zwei Prozentpunkte fließen in die Regio-Genossenschaft, die damit Gehälter und Verwaltungskosten deckt. Der andere, größere Teil geht in die Unterstützung sozialer Einrichtungen. Bisher wurden 240 Vereine mit rund 230.000 Euro gefördert – vom Trachtenverein über den Frauennotruf bis zu Greenpeace. „Durch den regionalen Waren- und Dienstleistungskreislauf erzeugt ein Chiemgauer ein Mehrfaches an regionaler Wertschöpfung als der Euro“, sagt Gelleri. Dennoch sei er nur eine Ergänzung zum Euro und kein Ersatz.

Dem Regiogeld-Verein wurde 2007 die Regios-Genossenschaft zur Seite gestellt, in der Gelleri heute als Vorstand arbeitet. In Kooperation mit der GLS Bank vergibt sie sogar zinslose Mikrokredite für Existenzgründer – zum Beispiel für Silvia Höhentinger, die Solaranlagen reinigt, oder für Arnand Yone, der in Traunstein eine „Afrika Bar“ eröffnete. „Die Ausfallquote bei den Chiemgauer-Krediten beträgt null“, sagt Daniel Wittig nicht ohne Stolz.

Und wenn nun der Euro über den Jordan oder das Mittelmeer geht? Gelleri behauptet, zumindest die Region Chiemgau sei gewappnet. Zwar wird bisher nur 0,02 Prozent der regionalen Bruttosozialprodukts in Chiemgauern abgerechnet, aber zur Not, sagt er, könnte man fast alles in der Region produzieren und mit Regiogeld bezahlen.