Der allerallerletzte Romantiker

BERSERKER Dietmar Daths „Sämmtliche Gedichte“ ist ein Roman über die Wirkungsmacht der Literatur, der seinen Beweis selbst antritt

„Wir müssen lyrischer und poetischer werden, wenn wir mit diesem ganzen Internet und Gott weiß was fertig werden wollen“

Mit dem Novalis’schen Credo, dass die Welt romantisiert werden müsse, ist vor 200 Jahren ein universaler Anspruch formuliert worden, vor allem aber ein bis dahin nicht gekanntes progressives und dynamisches ästhetisches Programm. Nichts weniger als der ursprüngliche Sinn – bei den Romantikern hieß es auch „das Absolute“ – des Lebens sollte gefunden werden, und das eben durch Literatur.

Dass man einen so emphatischen Glauben an die Kraft der Literatur heute noch aussprechen könnte, ohne dass es inmitten des allgemein zur Schau getragenen Unterstatements heillos altmodisch – romantisch im profanen Sinne – wirkt, sollte man nicht meinen. Dietmar Dath traut sich eigenartigerweise genau das, aber als selbst erklärter Marxist zeigt er sich ja ohnehin als jemand, der nicht unbedingt auf den Wellen des Zeitgeistes schwimmt.

„Sämmtliche Gedichte“ heißt sein jüngstes Buch (Himmel, wie kann er schon wieder eines geschrieben haben?!), und wenn bereits die Schreibweise des Titels eine gewisse Affinität zum 18. Jahrhundert erkennen lässt, dann sind es tatsächlich auch die ganz grundsätzlichen Fragen, die Dath und seinen Protagonisten, den Dichter Adam Sladek, darin umtreiben: die nach den welt- und subjektverwandelnden Potenzialen von Literatur.

In nächtelangen, alkoholdurchfleuchten Gesprächen mit der Malerin Johanna Rauch sinniert Sladek über diese Fragen, bricht eine Lanze für die Lyrik als einzig angemessenem Gegenentwurf zur Zeit – „wir müssen lyrischer und poetischer werden, wenn wir mit diesem ganzen Internet und Gott weiß was fertig werden wollen“ – und ist bald in eine wilde Liebesgeschichte mit der Künstlerin verstrickt. Verstrickt ist er aber auch noch in etwas anderes: in die obskuren Pläne des Millionärs Kreuzer, der Sladek in seine im Niemandsland um Karlsruhe und Bruchsal gelegene Villa komplementiert, um, wie es zunächst scheint, eine besondere Edition von dessen Gedichten herauszugeben.

Als Handlanger von Kreuzer kommt noch ein mit reichlich Süffisanz ausgestatteter gewisser Dietmar Dath ins Spiel – und langsam dämmert Sladek, was für eine durchgeknallte Sache am Laufen ist. Kreuzer und sein Kompagnon haben den Gedanken der weltverändernden Kraft von Literatur mit diffusen biologistisch-darwinistischen Ideen verquirlt, und nun soll Sladek zur lyrischen Stammzelle für künftiges optimiertes menschliches und literarisches Material gemacht werden. Erst in einem nach allen Regeln des Cyberpunk arrangierten Finale kann sich Sladek in einem blutigen Showdown von Kreuzer und seinem verquasten Plan befreien.

Am Ende des Kampfs, auf den letzten Seiten des Romans, hüpft Dath kurzerhand noch mal explizit auf die selbstreflexive Ebene des Textes. Als sein Personal gerade zerschunden und zerbeult den regenvermatschten Schauplatz verlassen will, gibt sich die Dath-Figur als Autor des Ganzen zu erkennen. „Du Arsch!“, ranzt ihn die Malerin ob der psychischen und physischen Versehrtheiten an, die Dath ihnen hat zufügen lassen, „was soll das, ich mein, geht’s dir nur um den Schock, der …“ „… die Figuren aufweckt. Ja.“

Aber eben nicht nur die Figuren. Daths Roman, der einen fast pathetisch märchenhaften Ton immerzu mit Gegenwartspartikeln und Hingefrotzeltem zusammenkrachen lässt, der nach bester romantischer Manier das eben Gesagte wieder zurücknimmt, um es dann gleich doch wieder zu bestätigen, ist so grandios herumwirbelnd, dass man sich eigentlich die ganze Zeit verwundert fragen müsste, wie um alles in der Welt er das macht.

Manisch oder berserkerhaft ist Daths Schreiben – entspricht damit aber eben auch im Ganzen dem romantisches Prinzip: Dem Absoluten nahezukommen, ist ein unendlicher Prozess, in dem der Text etwas Vorläufiges bleibt, der immer wieder von Neuem und neu geschrieben werden muss. Herausgekommen ist bei diesem Neuschreibungsversuch ein irrwitziges und witziges, ein leidenschaftliches Buch, das über die Kräfte von Literatur beglückenderweise nicht nur spekuliert, sondern einfach selbst den Beweis antritt.

„Es muss doch“, denkt Sladek einmal, während er gerade langsam auf dem Sofa eindöst, „immer Texte geben, Worte zu allem, in meiner Welt. / Sonst kann ich nicht schlafen. / Nicht wachen. / Nicht leben.“ Bei Dath will man diese Worte in einem fort anstreichen: den vor sich hinfaselnden Regen, die Nacht, die in ihren Stiefeln schläft, Sonne und Mond, die verdattert scheinen, und die Liebenden, die Ärger hatten mit dem Glück, von Anfang an. Die Romantiker würden, wenn sie könnten, bittersüße Tränen weinen, dass sie Dietmar Dath noch nicht zu ihrem Kreis zählen durften. WIEBKE POROMBKA

Dietmar Dath: „Sämmtliche Gedichte“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009, 284 Seiten, 22,80 Euro