Erdig senkt sich der Körperschwerpunkt zu Boden

PIONIERE „Visa 2 Dance“ heißt ein ehrgeiziges Tanzfestival im tansanischen Daressalam. In den Choreografien geht es oft um Ausgrenzung, Annäherung und Differenzen zwischen den Generationen. Das Publikum tut sich noch etwas schwer mit dem zeitgenössischen Tanz

Auch das Publikum braucht Schulung, das Befremden ist bisweilen groß

VON ESTHER BOLDT

Zeitgenossenschaft ist in Daressalam ein hybrides Ding. In der regen Millionenstadt am Indischen Ozean, der inoffiziellen Hauptstadt Tansanias, gehen Tradition, Postkoloniales und Globalisierung eine enge Allianz ein. Daher ist die Stadt ein dankbarer Ort für ein Festival, das den zeitgenössischen Tanz feiert, „Visa 2 Dance“. Der Name erinnert daran, dass Tänzer für internationale Gastspiele Visa brauchen.

In diesem Oktober zeigte das Festival vier Eigenproduktionen sowie Gastspiele aus Südafrika, Uganda, Kenia, Äthiopien, Italien, Schweden, den Niederlanden und Deutschland. Mit insgesamt 20 Choreografien an vier Abenden bildet das Festival ein Kaleidoskop unterschiedlicher Handschriften und Körpersprachen, über- und herausfordernd, und eine ganze Bandbreite dessen, was unter zeitgenössischem Tanz firmiert. Eine Programmierung, die auf Vielfalt setzt, um Publikum, Tänzer und Choreografen mit neuen Blickweisen zu konfrontieren.

Denn der zeitgenössische Tanz ist in Afrika eine junge Kunst. Gegründet hat das Festival 2007 der tansanische Tänzer und Choreograf Aloyce Makonde, der in Tansania als Vorreiter des zeitgenössischen Tanzes gilt. Er studierte am Bagamoyo College of Arts, einer Ausbildungsstätte für traditionellen Tanz in Ostafrika, die aber auch als Ursprungsort des zeitgenössischen Tanzes gilt. Denn dort wurde in den 1980er-Jahren begonnen, Modern Dance mit Traditionellem zu verbinden – eine Mischung, die noch immer charakteristisch ist: Der zeitgenössische Tanz verbindet Elemente des traditionellen Tanzes mit Street- und Modern-Dance und erfindet eigene Techniken. Die jungen Tänzer verstehen sich als Kinder der Globalisierung, sie fühlen sich der Kultur ihrer Eltern entfremdet und schauen gen Westen, aber forschen nach ihren Wurzeln.

Heute leitet Makonde das Festival gemeinsam mit der italienischen Choreografin Vanessa Tamburi. Finanziert wird es durch Sponsoren, lokale Firmen und internationale Institutionen, denn es gibt kaum öffentliche Mittel für Kunst. Unter den Förderern der ersten Stunde ist auch das Goethe-Institut Tansania, die Leiterin Ulrike Schwerdtfeger bezeichnet das Festival als „kulturellen Höhepunkt der Saison“ in Daressalam. Die Geldgeber tragen auch inhaltlich zum Festival bei, indem sie Gastspiele vorschlagen.

Ist es ein Zufall, dass es vor dem Hintergrund einer sehr heterogenen Tanz- und Kulturgeschichte, in einem Land zwischen Armut und Aberglauben, Globalisierung und Safari-Tourismus, in vielen Choreografien um die Differenz ging? Um den Umgang mit dem Anderen, Fremden, um Überschneidungen, die spannungsreiche Hybridität gebären? Und um identitätsstiftende Abgrenzung, die in Diskriminierung umschlagen kann? Sei der Fremde nun ein Albino, die Frau, eine andere Generation oder der eigene Körper.

Gleich zwei Eigenproduktionen des Festivals befassten sich mit den Morden an Albinos in Tansania, „My White Painting“ von Makonde und „Black in White“ von Tamburi. In Tansania werden heute noch Albinos ermordet; ihre Körperteile werden im Glauben an ihnen innewohnende magische Kräfte zu Tränken verarbeitet. „Black in White“ wurde mit jungen tansanischen Tänzern erarbeitet. Es ist beeindruckend, was Tamburi in einer Probenzeit von nur zwei Wochen gelungen ist: ein kraftvolles, konzentriertes Ensemble zu schaffen, das Modi der Ausgrenzung und Gemeinschaftsbildung durchspielt.

Die Keiga Dance Company aus Uganda thematisiert die Genitalverstümmelung von Frauen. In der verstörenden Choreografie von Jonas Byaruhanga werden fünf männliche Tänzer zu androgynen Wesen mit wehenden Röcken und glänzenden Brustmuskeln, Imponiergehabe und Zeichen von Schwäche. Mit eruptiver Energie und Verletzlichkeit berühren sie gleichermaßen. Das Wissen um die Akte der Verstümmelung wird zu einem von beiden Geschlechtern geteilten Schmerz: Zitterwellen durchlaufen die fünf Tänzer wie ein stummes Schluchzen. Wie in vielen der afrikanischen Choreografien vereinigen sich hier traditionelle Phrasen, wenn sich etwa der Körperschwerpunkt erdig gen Boden senkt, mit zeitgenössischen Elementen, aber auch mit Butoh und Streetdance zu einer reichen Sprache.

In „Kizazi“, von James Mweu, Begründer des Kunja Dance Theatre in Nairobi, lernen die Generationen voneinander. In seiner Choreografie beobachten der 19-jährige Vincent Ochieng und der 33-jährige Mweu einander, ahmen Bewegungen nach, um sie gleich wieder zu verlassen, denn die Differenz wird hier, bei einer großen Nähe zwischen den Tänzern, beibehalten. Sie wechseln fließend zwischen Zuständen unterschiedlicher Intensität und scherzen, wenn sie zu Country-Music Luftgitarre spielen.

Die tänzerische Ausbildung des Körpers ist unter den Teilnehmern des Festivals keine Selbstverständlichkeit, denn Ausbildungsstätten sind rar. Fragt man ostafrikanische Tänzer, wie sie zum Tanz kamen, antworten sie wie aus einem Munde: „Das ist eine lange Geschichte.“ „Wir lernen in Workshops und von Tänzern, mit denen wir arbeiten. Diese Erinnerungen und Erfahrungen verbinden sich und prägen uns“, so Neema Bagamuhunda aus Nairobi. „Wenn ein Choreograf einen Tänzer auswählt, dann nicht, weil er eine bestimmte Schule durchlaufen hat, sondern weil er einen eigenen Stil hat.“

Die Choreografen gehen, anders als in der sogenannten westlichen Welt, von der Heterogenität in einem Ensemble aus – aber auch davon, dass sie ihre Tänzer zunächst trainieren müssen. Eine Reihe von Workshops gab beim Festival den jungen Tänzern die Möglichkeit, sich fortzubilden.

Doch auch das Publikum braucht Schulung, denn Kunstunterricht ist nicht Teil des Curriculums. Angesichts des Zeitgenössischen Tanzes ist das Befremden teilweise groß. Die Tänzer und Choreografen bilden die Speerspitze, wie Herbert Makoye, Leiter des Institute of Fine and Performing Art der Universität Daressalam, befindet: „Sie sind Pioniere. Also müssen sie damit rechnen, beschossen zu werden – und sich eine kugelsichere Weste zulegen.“