Chinesische Dumplings: Liebe im Teigmantel

Wenn unsere Autorin jiăozi isst, fühlt sie sich ihrer Tante, ihrer Ayi, ganz nah. Die Geschichten rund um diese Teigtaschen erzählen auch Ayis Leben.

Frisch gefaltete Teigtaschen, manche mit etwas Mehl bestäubt, auf einem Blec

Jetzt nur noch kochen: jiăozi an einem Marktstand in Shanghai Foto: imago/Blickwinkel

Wenn es die Zeit erlaubt, kramt Ayi mittags nach dem Abwasch in der Schublade ihres schiefen hölzernen Esstischs. Es dauert eine Weile, denn die Schublade klemmt. Irgendwann zieht sie eine Lesebrille heraus, greift zur Zeitung und versinkt im Weltgeschehen. Sie interessiert sich für Innen- und Außenpolitik, für Flüsse und Städte und Länder.

Hätte meine Tante, meine Ayi, es sich aussuchen können, dann wäre sie Erdkundelehrerin geworden. Aber sie durfte sich ihren Beruf im sozialistischen China nicht selbst wählen – und außerdem kam Ayi Mao Zedongs Landverschickung dazwischen. Damals, im Mai 1969, stieg sie, wie Tausende anderer junger Menschen aus Schanghai, unter den Tränen von Großeltern, Eltern und Geschwistern in einen Zug und fuhr über 2.500 Kilometer nach Heilongjiang, in die nordöstlichste Provinz Chinas, an der Grenze zu Russland. Auf Weisung des großen Vorsitzenden Mao sollten die Städter und Städterinnen dort auf den Feldern lernen, mit den Händen zu arbeiten, anstatt sich in Universitäten die Köpfe über Bücher zu zerbrechen.

Als Ayi fast zehn Jahre später nach Schanghai zurückkehrte, war sie 27 und hatte keine Zeit mehr zum Studieren. Sie heiratete einen Mann vom Dorf mit großem Herzen und kleinem Einkommen, wurde Hausfrau und bekam eine Tochter. Ein wenig Wehmut liegt in ihrer Stimme, als sie von der Zeit in Heilongjiang erzählt. Aber nicht nur, weil sie etwas aufgeben musste, sondern auch, weil sie dort vieles gefunden hat: Verbundenheit mit anderen zum Beispiel. Und Demut. Und die Liebe zu jiăozi 饺子, zu gefüllten Teigtaschen.

Die Menschen im Nordosten Chinas gelten als die Größten, wenn es um die jiăozi-Produktion geht. In Shanghai werden traditionell eher die dünnhäutigen húntun 馄饨 oder die gedämpften xiăolóngbāo 小笼包 gegessen. Aber Ayi hat damals in Heilongjiang die Kunst des jiăozi-Zubereitens gelernt und vermutlich würde ich diese Art Dumplings heute nicht so sehr lieben, wenn Ayi mir nicht ihre Geschichte erzählt hätte.

Ein Teig ohne Schnickschnack

Meine Liebe beginnt mit dem Teig, denn der ist ohne Schnickschnack, und ich liebe Sachen ohne Schnickschnack. Wer in China lebt, kann frischen jiăozi-Teig kaufen. In Deutschland aber fängt man besser bei null an. Ein Hügel aus Mehl, lauwarmes Wasser, eine Prise Salz. Meine Mutter gibt dafür immer Mehl in eine Schüssel und macht mit den Fingerspitzen eine kleine Mulde in die Mitte.

Wer Lust hat, kann dabei überlegen, wie viel feiner sich Mehl im Vergleich zu Sand anfühlt und warum es so lange her ist, dass man das letzte Mal mit den Händen im Sand gespielt hat. Dann gießt man ein bisschen lauwarmes Wasser in die Mulde und vermengt das Staubige mit dem Flüssigen, immer wieder, so lange, bis ein zäher Teigklumpen in der Schüssel liegt. Wenn man dabei das Salz vergessen hat, ist das nicht so schlimm, versprochen.

Von jiăozi muss man übrigens immer mehr essen, als man kann. Weil Ayi es so sagt und weil man nie weiß, wann man das welche machen wird

Wichtiger für den Teig und die Liebe ist es, dass die Knetenden Wut und Kraft in sich tragen. Es gilt nämlich: Je länger und fester der Teig geknetet und auf die Arbeitsplatte geklatscht wird, desto besser. Mindestens glatt und seidig sollte er sich anfühlen, bevor er unter einem feuchten Tuch ein paar Stunden ruht.

Für die Füllung geht fast alles, Bärlauch, Garnelen, Duftpilze, sogar Tiefkühlspinat. Alles wird später gut sein, dennoch werden jiăozi am besten schmecken, wenn sie mit Fleisch gefüllt werden – klassisch mit Schweinehack und Chinakohl. Aber egal welche Füllung man anmischt, es müssen auf jeden Fall Knoblauch, Frühlingszwiebeln und Ingwer hinein. Außerdem ein Ei, Salz, Pfeffer, ein wenig Sojasoße und noch weniger Chinkiang-Essig, milder, schwarzer Reisessig. Gut vermischen, fertig.

Nun kommt der schönste Teil

Bei null anfangen ist immer anstrengend, deswegen sollten die Zubereitenden ebenfalls kurz ruhen, solange der Teig ruht. Es ist ein bisschen wie mit einem Säugling, man geht kurz weg und macht was anderes. Vielleicht schlafen, oder endlich mal wieder im Sand spielen, oder eine jiăozi-Legende lesen – (eine, in der jiăozi vor dem Tod schützen oder zumindest davor, dass Gliedmaßen vor Kälte abzufallen drohen). Und wenn der Teig unter seinem Tuch dann genug geruht hat, beginnt der schönste und schwierigste Teil: das Füllen der Teigtaschen. Auf Chinesisch heißt das bao jiăozi 包饺子: jiăozi einpacken.

Dazu rollt man erst eine Teigwurst aus dem Klumpen, mit zwei Zentimeter Durchmesser. Dann schneidet man die Wurst in fingerbreite Stücke, mehlt die Arbeitsfläche ein und rollt runde Kreise aus dem Teigwurststückchen. Die müssen nicht perfekt sein, nur löchrig wäre blöd.

Dann stellt man ein Glas Leitungswasser bereit, legt einen Teigkreis in die eine Hand und platziert etwas Füllung in dessen Mitte. Die Finger der anderen Hand tunkt man kurz ins Leitungswasser und bestreicht dann den Teigrand, einmal ringsherum. Dann klappt man eine Seite des Teigkreises hoch, schließt die Füllung ein, drückt den Teig an den Rändern virtuos und blitzschnell so zusammen, dass eine gleichmäßig gefächerte Tasche entsteht. Easy.

Sollte das nicht gelingen, heißt die Priorität: keine Löcher. Die Füllung muss gut geschützt sein, bevor die jiăozi in sprudelndes Wasser gegeben werden. Darin tanzen sie dann vor sich hin, so lange, bis sie an der Oberfläche schwimmen und man sie herausfischen kann.

Das Glück muss man teilen

jiăozi werden gedämpft, gekocht und gebraten gegessen; geht es nach mir, sind sie gekocht aber am leckersten. Kaum Schöneres, als nach so viel Handarbeit einen dampfenden Berg shuijiăo 水饺 vor sich zu sehen und zu den Essstäbchen zu greifen, natürlich in Gesellschaft, denn das Glück des jiăozi-Essens muss man teilen, damit es wirkt.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Dazu tunkt man die Teigtaschen in eine Mischung aus Reisessig und Sesamöl und isst sich zusammen glücklich. Man schmatzt ein bisschen vor sich hin und erzählt sich kauend Geschichten. Und wenn man irgendwann fertig ist, kugelt man zum Herd und füllt ein bisschen Kochwasser in das mit Essig und Öl bekleckste Schälchen. Dann schlürft man die Suppe in sich hinein und ist wohlig warm und selig.

Von jiăozi muss man übrigens immer mehr essen, als man kann. Weil Ayi es so sagt und weil man nie weiß, wann man das nächste Mal die Energie aufbringen wird, jiăozi zu machen. Womöglich niemals. Meine Regel deshalb: Man kann immer noch zwei, drei mehr, als man denkt. Als ich zwölf war, habe ich mal 38 Stück geschafft, Rekord. Es war an Heiligabend, es war mein deutsches Teigtaschenweihnachtswunder. Bis heute unübertroffen. Leider war Ayi nicht dabei.

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